Mordechai Ciechanower in seinem Wohnzimmer in Ramat Gan Foto: Benjamin Merkt

Als junger Erwachsener überlebte Mordechai Ciechanower zahlreiche Konzentrationslager, darunter Auschwitz und Hailfingen-Tailfingen an der Grenze zwischen den Kreisen Böblingen und Tübingen.

Beim erneuten Hausbesuch eines jetzt 100-Jährigen, der in Ramat Gan in Israel lebt, lautet die wichtigste Frage erst einmal: „Wie geht es Ihnen, Herr Ciechanower?“ Der Jubilar antwortet routiniert: „Wie Sie wissen, bin ich ein sehr alter Mann“ – und fügt hinzu: „Aber noch ist mein Gesundheitszustand in Ordnung“.

Ciechanower nimmt mit dem 79 Jahre Jüngeren zusammen auf dem großen Sofa im Wohnzimmer Platz, wo der Jubilar zurückblickt. „Ich war mir sicher, dass ich das Alter von 100 Jahren nicht erreichen werde, auch nicht 90 Jahre und auch nicht 80 Jahre, weil ich sehr viel mitgemacht habe in meinem Leben, sehr viel mitgemacht“, sagt Ciechanower. Am 27. Februar ist er 100 geworden.

„Ich bin schon unzählige Male tot gewesen“

„Von der ganzen Kompanie, in der ich damals nach Hailfingen-Tailfingen gekommen bin, bin ich der Letzte, der noch am Leben ist. Ob das Schicksal ist, das weiß ich nicht und trotzdem werde ich meine Geschichte weitergeben, so lange ich kann“. Nach vorne gebeugt, mit erhobenem Zeigefinger und einer festen Stimme fährt der gebürtige Pole fort: „Ich bin schon unzählige Male tot gewesen, mehr als 95 Prozent tot war ich bereits, unzählige Male, und doch stehe ich auf meinen Füßen bis zum heutigen Tage“.

Ciechanower ist umringt von Bildern, Erinnerungen und Ehrungen, die die Wände seiner Wohnung säumen und nur einen kleinen Einblick in das lange Wirken des 100-jährigen ermöglichen. „Jedes einzelne Bild hat eine Bedeutung und eine Geschichte“ betont Ciechanower.

Eine Videobotschaft geht zurück nach Deutschland

Seine nachlassenden Kräfte verbieten ihm mittlerweile eine Rückkehr nach Deutschland, dem „Land der Täter“, dem er vor mehr als 20 Jahren mit seinem ersten Besuch auf deutschem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg die Hand zur Versöhnung reichte und mit vielen Gesprächen und Vorträgen die Widerstände gegen ein lokales Gedenken im Gäu durchbrach. Auch mit einer Videobotschaft gelingt es, die circa 2800 Kilometer zwischen Ramat Gan und Tailfingen zu überbrücken, was Ciechanower ein lang anhaltendes Lächeln ins Gesicht zaubert. Auf dem Video wenden sich Freunde wie die frühere SPD-Landtagsabgeordnete Birgit Kipfer an ihn und gratulieren. „Das ist für mich das schönste Geschenk“ kommentierte Ciechanower sichtlich gerührt.

In einem sehr emotionalen Grußwort richtet sich der 100-Jährige aus der Ferne an sein Publikum: „Es ist sehr schade, dass ich nicht mehr selbst nach Deutschland kommen kann, um euch zu treffen“. Zu seinem Besucher sagt er: „Ich glaube, Sie sind der Letzte, der mich auf diesem Weg zu meiner Gruppe nach Deutschland bringt und dafür danke ich Ihnen sehr.“

Unser Autor Benjamin Merkt ist Jugendguide und Vereinsvorsitzender an der KZ-Gedenkstätte in Tailfingen.