Ein Redakteur unserer Zeitung hat Missstände in der Polizeiführung Baden-Württembergs aufgedeckt. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen ihn.
Für den Untersuchungsausschuss des Landtags, der am Freitag seine Arbeit aufnimmt, ist es mutmaßlich nur ein Randaspekt; für unsere Leser und unsere Zeitung ist es eine massive Behinderung der Pressefreiheit: Die Staatsanwaltschaft Stuttgart ermittelt seit Anfang Mai nicht nur gegen Innenminister Thomas Strobl (CDU) und einen seiner Mitarbeiter, sondern auch gegen einen Redakteur unserer Zeitung.
Der Aufdecker wird zum Beschuldigten gemacht
Brisant daran: Es ist genau der Redakteur, der nach intensiven Recherchen mit zahlreichen Artikeln Missstände in der Polizeiführung aufgedeckt und öffentlich gemacht hat, die sich nun im Auftrag des Untersuchungsausschusses wiederfinden. Gemäß dem im seriösen Journalismus gültigen Grundsatz, dass niemand über eine Angelegenheit berichten soll, in der er Betroffener ist, verwehrt das Vorgehen der Staatsanwaltschaft dem Redakteur die Berichterstattung über den Ausschuss.
Persönlich zu Händen des Ministers
Der Vorwurf: Mit seiner Berichterstattung über einen Brief, den der Anwalt des Inspekteurs der baden-württembergischen Polizei persönlich zu Strobls Händen adressiert hatte, soll der Redakteur gegen den Paragrafen 353d des Strafgesetzbuchs verstoßen haben. Und zwar in Form einer verbotenen Mitteilung über das laufende Disziplinarverfahren gegen den obersten Polizisten des Landes. Diesem werden erhebliche sexuelle Übergriffe gegen Mitarbeiterinnen vorgeworfen.
Strobl als Anstifter?
Thomas Strobl hat diesen Brief durch seinen Mitarbeiter per E-Mail an den Redakteur senden lassen, nach eigener Aussage, um Transparenz herzustellen. Deswegen läuft auch ein Ermittlungsverfahren gegen den Minister. Der Vorwurf lautet hier, Strobl habe zur widerrechtlichen Berichterstattung angestiftet.
Die Arbeit eines Investigativredakteurs
Damit wird zur Last gelegt, was im Journalismus, speziell für investigativ arbeitende Reporter, zum Tagesgeschäft gehört: Beweismaterial für die eigene Berichterstattung zu sammeln und zu verwerten. Juristisch geht es um die Bewertung, ob das Schreiben eines Anwalts ein amtliches Dokument ist, das vor Abschluss des Verfahrens nicht öffentlich zitiert werden darf.
Ein Gesetz von 1874 muss herhalten
Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft glaubt, der Brief an Strobl sei ein amtliches Dokument. Der Brief hingegen enthält die ausdrückliche Bitte des absendenden Anwalts, den Inhalt außerhalb des Verfahrens zu behandeln. Wichtiger: Die allgemein bei Gerichten angewandte Kommentierung des Paragrafen 353d führt darüber, was amtliche Verfahrensdokumente sind, aus: „Nicht erfasst sind Schriftsätze der Verteidigung oder nichtamtliche Sachverständigengutachten.“
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart stützt ihre Gegenposition auf eine Entscheidung des Reichsgerichts Berlin von 1902, was amtliche Schriftstücke eines Strafprozesses sind. Dieses Urteil wiederum beruft sich auf das Gesetz über die Presse vom Mai 1874. Das also ist die Grundlage der Stuttgarter Staatsanwaltschaft, das im Grundgesetz der Bundesrepublik verbriefte Recht auf Pressefreiheit auszulegen.
Knapp an einer Durchsuchung vorbei
Die Staatsanwälte gingen dabei so weit, sich einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss für die elektronischen Arbeitsmittel, den Arbeitsplatz in der Redaktion und die Privatwohnung des Redakteurs zu besorgen. Mutmaßlich wollten sie Aufschlüsse über möglichst viele Informanten des Journalisten gewinnen, nicht nur über den Gegenstand des Verfahrens. Die E-Mail mit dem von Strobl übergebenen Brief hatte der Anwalt unseres Redakteurs nach Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft übermittelt. Was immerhin dazu führte, dass es dann doch zu keiner Durchsuchung bei unserem Redakteur kam. Am gleichen Tag wurde indes das Innenministerium durchsucht.
Jörg Becker, Anwalt des Redakteurs, sagt dazu: „Das war wirklich knapp. Das Verfahren ist ein Angriff auf die Pressefreiheit. Eine Durchsuchung bei meinem Mandanten hätte großen Flurschaden angerichtet. Das mussten wir verhindern. Das Ermittlungsverfahren hätte gar nicht erst eröffnet werden dürfen: weder ist der Tatbestand erfüllt, noch der Schutzzweck des Gesetzes verletzt – schließlich hat der Minister das Schreiben selbst zur Verfügung gestellt.“
Keine Einstellung gegen Geldzahlung
Nach dem offenkundigen Effekt befragt, dass das Verfahren eine Berichterstattung des Redakteurs vereitelt, teilte der Sprecher der Stuttgarter Staatsanwaltschaft unserer Zeitung lediglich mit: „Die Ermittlungen zu dem (…) Sachverhalt sind noch nicht abgeschlossen. Ich bitte um Verständnis, dass vor diesem Hintergrund – auch unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung der anfragenden Medien – derzeit keine weiteren Auskünfte erteilt werden können.“
Keine Einstellung des Verfahrens, keine Anklage
Fakt ist: Ohne die Ermittlungen gegen den Redakteur könnte nicht gegen Strobl ermittelt werden. Dann entfiele ein wesentliches Untersuchungsziel für den Ausschuss. Es stört daher nicht alle in Landtag und Polizeiführung, dass diese Ermittlungen weder eingestellt worden sind, noch zu einer Anklage geführt haben.
Warum der Redakteur Nein gesagt hat
Die Staatsanwaltschaft hat dem Redakteur Mitte August die Einstellung des Verfahrens nach Paragraf 153a der Strafprozessordnung angeboten, also gegen eine Geldzahlung. Das ist möglich, so das Gesetz, „wenn die Schwere der Schuld nicht entgegensteht“. Der Redakteur hat abgelehnt. Sein Standpunkt, der Standpunkt unserer Zeitung ist: Er hat sich in dieser Angelegenheit nicht das Geringste zuschulden kommen lassen.