Polizisten am Tatort: In Brüssel sind am Montagabend zwei Menschen getötet worden. Foto: dpa/Hatim Kaghat

Belgiens Hauptstadt wird wieder von einem islamistischen Anschlag erschüttert. Die Behörden versuchen in den Problemvierteln gegenzusteuern, doch der Polizei wachsen die Probleme über den Kopf.

Nichts geht mehr am Place Eugène Verboekhoven. Unzählige Einsatzwagen der Polizei blockieren mitten im morgendlichen Berufsverkehr die Zufahrtstraßen zu dem überdimensionierten Kreisverkehr im Brüsseler Stadtteil Schaerbeek. Busse und Straßenbahnen werden umgeleitet, Händler stehen vor leeren Geschäften, ihre Kundschaft wartet hinter den blau-weißen Absperrbändern der Polizei.

Gerüchte machen unter den Schaulustigen die Runde, einige der Anwohner wollen in den frühen Morgenstunden Schüsse gehört haben. Auf Fragen reagieren die Einsatzkräfte ruppig-abweisend, klar ist aber, dass der Großeinsatz mit den Morden an zwei schwedischen Fußballfans am Abend zuvor zusammenhängt.

Feuer eröffnet mit Sturmgewehr

Gegen 19 Uhr hatte ein Mann am Montag im Stadtzentrum mit einem Sturmgewehr das Feuer auf eine Gruppe von Passanten in einem Taxi eröffnet. Die befanden sich offensichtlich auf dem Weg zum Stadion, wo die Nationalmannschaften Belgiens und Schwedens in einem EM-Qualifikationsspiel gegeneinander spielten. Die Begegnung wurde wegen des Attentats in der Halbzeit abgebrochen.

Für zwei Menschen kam nach dem Angriff jede Hilfe zu spät, der Täter flüchtete und wurde schließlich nach mehreren Stunden am Place Eugène Verboekhoven im Norden von Brüssel gestellt, nur einen Steinwurf von seiner Wohnung entfernt. Dort kam es zu einem Schusswechsel, der Mann wurde schwer verletzt und starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Das teilte das belgische Krisenzentrum am Morgen auf X, ehemals Twitter, mit.

Terroranschlag mit islamistischem Hintergrund

Die Polizei ging nach der Schießerei sehr schnell von einem Terroranschlag mit islamistischem Hintergrund aus. Grund waren verschiedene Videos, die der mutmaßliche Attentäter vor und nach den Morden in den sozialen Netzwerken veröffentlicht hatte. Darin stellt er sich als Dschihadist dar und behauptet, dem Islamischen Staat anzugehören. In seinem Facebook-Profil war ein Eintrag zu finden, in dem der Mann behauptet, „die Muslime gerächt“ zu haben: „Gott sei Dank, Ihr Bruder Abdesalam hat die Muslime gerächt, ich habe gerade drei Schweden getötet.“

Im Laufe der Nacht kamen schließlich immer mehr Informationen ans Licht. Demnach war der mutmaßliche Attentäter den Behörden bekannt. Man könne bereits jetzt sagen, dass es sich um einen 45-jährigen Tunesier handele, der im November 2019 in Belgien Asyl beantragt habe, sagte Belgiens Justizminister Vincent van Quickenborne am frühen Morgen. Er sei der Polizei im Zusammenhang mit Menschenhandel, illegalem Aufenthalt und Gefährdung der Staatssicherheit aufgefallen.

Molenbeek als Paradebeispiel einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung

Die meist arabischstämmigen Geschäftsleute am Place Eugène Verboekhoven sind sich an diesem Morgen einig: Die Terrortat wird den schlechten Ruf von Schaerbeek weiter verfestigen. In den Polizeiberichten wird der Stadtteil längst in einem Atemzug mit Molenbeek genannt, jenem Viertel, aus dem die islamistischen Attentäter stammen, die am 13. November 2015 in Paris 130 unschuldige Menschen in den Tod rissen. Auch bei den Anschlägen auf die Metro im März 2016 in Brüssel mit über 30 Toten spielten junge Männer aus dem Stadtteil eine zentrale Rolle. Molenbeek galt danach als das Paradebeispiel einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung. Der 100 000 Einwohner zählende Stadtteil gehört zu den ärmsten Gegenden Belgiens, rund die Hälfte der unter 25-Jährigen ist ohne Job.

Im Laufe der Jahrzehnte haben sich dort vor allem Zuwanderer aus dem arabischen Raum niedergelassen. Die Mieten sind im Vergleich zum Rest der Stadt niedrig, man kennt sich untereinander und braucht die Sprache des Landes nicht wirklich zu lernen. Das habe zu einer gefährlichen Ghettobildung geführt, erklärt die Polizei. Die Abschottung mache es den Islamisten sehr leicht, den Hass auf die westliche Gesellschaft zu schüren und junge Menschen zu radikalisieren.

Auch Stadtteil Schaerbeek gilt als Problemfall

Polizei und Sozialarbeiter warnten zuletzt allerdings immer häufiger davor, sich zu sehr auf Molenbeek zu konzentrieren. Sie sprechen längst vom Brüsseler „croissant pauvre“, das sind jene ärmeren Viertel im Norden, die sich wie ein Halbmond um das Stadtzentrum legen. Zu diesen sogenannten Problemzonen zählt auch Schaerbeek. Der Stadtteil taucht nicht wie das berühmt-berüchtigte Molenbeek in den Weltnachrichten auf, dafür umso häufiger in den Schlagzeilen der lokalen Presse. Ständig sind Berichte über kleinere und größere Bandenkriege zu lesen, die rund um den Brennpunkt am Nordbahnhof ausgefochten wurden.

Wird in Molenbeek häufig Arabisch gesprochen, ist die Umgangssprache in Schaerbeek oft Türkisch, auch viele rumänische und bulgarische Wanderarbeiter wohnen dort. Die zentrale Rue de Brabant gilt als exotische Touristenattraktion, weil sie im Sommer mit ihren unzähligen türkischen Geschäften das Gefühl eines orientalischen Basars vermittelt. Von exotischem Essen über Kleidung, Schmuck bis hin zu Möbeln ist dort alles zu bekommen. Dieses wuselige Treiben hat allerdings auch die Halbwelt angelockt, und so gelten Teile des Viertels als Umschlagplätze für den Straßenhandel mit Drogen. Hinzu kommt, dass sich in der Parallelstraße zur Rue Brabant der schmuddelige Teil des Rotlichtbezirks von Brüssel befindet. Bis in die frühen Morgenstunden stehen die Prostituierten in den großen Fenstern und bieten ihre Körper feil. Das führt zu der erstaunlichen Situation, dass strenggläubige Muslime und hartgesottene Zuhälter in unmittelbarer Nachbarschaft ihren jeweiligen Geschäften nachgehen.

„Alle abschieben oder ins Gefängnis werfen“

Als Reaktion auf die hohe Kriminalitätsrate wird inzwischen mehr Polizei auf die Straßen geschickt. Es gibt mehr Kontrollen auf den Straßen, mehr Razzien und ein abendliches Verbot von Alkohol auf den öffentlichen Plätzen. Wirklich erfolgreich ist das allerdings nicht, weshalb der Bürgermeister von Schaerbeek vor einigen Monaten zusammen mit zwei Kollegen in einem offenen Brief das Innenministerium alarmierte und die Bundespolizei anforderte, da die normalen Streifenbeamten vor Ort die Situation nicht mehr unter Kontrolle hätten.

Am Place Eugène Verboekhoven ist die Meinung in Sachen Kriminalitätsprävention unter den Schaulustigen sehr eindeutig. „Alle abschieben oder ins Gefängnis werfen, egal ob Terroristen oder Drogendealer“, fordert eine Frau, bekleidet mit einem Tschador. Menschen wie der Attentäter seien eine Schande für alle Muslime. Die Polizei und die Politiker müssten viel härter durchgreifen, sagt sie, dann sei das Leben wieder sicherer in Schaerbeek.