Verteidiger im Verfahren gegen mutmaßliche Rechtsterroristen der Gruppe S. werfen dem Generalbundesanwalt vor, Beweismittel zurückzuhalten: Ein Beschuldigter nahm sich in der Untersuchungshaft vor zweieinhalb Jahren das Leben, seinen letzten Brief übergab die Staatsanwältin erst jetzt dem Gericht.
Als Ulf R. die Frau, in die er sich verliebt hatte, in den ostwestfälischen Clubs zwischen Bielefeld und Minden nicht mehr fand, ging er zur Polizei. Dort deponierte er einen Strauß roter Rosen und einen Brief, schickte der Angebeteten eine Kurznachricht, dass auf einer Polizeiwache Blumen für sie warteten. So fand sich das Paar: Vier Jahre später waren sie verheiratet, bekamen zwei Kinder. Die heile Welt zerbrach vor drei Jahren, am 14. Februar, als Polizisten eines Spezialeinsatzkommandos das Haus der vier um 6 Uhr stürmten, R. festnahmen. Fünf Monate später war der 47-Jährige tot. Er nahm sich in Untersuchungshaft in Dortmund das Leben: „Mein Schatz, ich wünsche Dir und den Kindern die nötige Kraft, Euren gemeinsamen Lebensweg ohne mich weiterzugehen“, schrieb er in einem letzten Brief.
R. gehörte zu den 13 Männern, denen der Generalbundesanwalt (GBA) vorwirft, sie hätten sich zusammengeschlossen, um mit Angriffen auf Moscheen einen Bürgerkrieg in Deutschland zu entfachen. In dessen Folge, davon sind die Ankläger überzeugt, hätten sie das politische System stürzen wollen. Seit dem 21. April 2020 bemühen sich Richterinnen und Richter des Stuttgarter Oberlandesgerichtes in jetzt 129 Verhandlungstagen, Licht ins Dunkle dieses sehr komplexen Falles zu bringen. R., so sind Ermittler des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg überzeugt, gehörte zu den Beschuldigten, „die am wenigsten mit dem Fall zu tun haben“.
Richter verwerfen Theorie des Generalbundesanwaltes
Die Gruppe, so der Vorwurf, habe sich am 8. Februar 2020 in Minden getroffen, um eine Rechtsterrororganisation zu gründen. Ursprünglich hatten Ermittler und Staatsanwälte – vor allem auf die größtenteils frei erfundene Aussage eines ebenfalls angeklagten, kriminellen Informanten bauend – angenommen, die Gruppe habe sich bei einem Treffen auf einem Grillplatz bei Schwäbisch Gmünd im September 2019 gefunden. Schon früh verwarfen die Richter diese Theorie.
Zu diesem Treffen kam Ulf R. zu spät. Nur drei anderen der heute zwölf Angeklagten war er vor dem 8. Februar 2020 überhaupt bekannt. Mit einem von ihnen war er befreundet. Mit den anderen tauschte er vor allem Links für eine Videoplattform und einige Kurznachrichten aus, die Ermittler der „Reichsbürgerszene“ zuschreiben. Ermittler stellten in Chatgruppen Bild- und Textnachrichten fest, die Bezüge zum Nationalsozialismus aufweisen. Ob sie von R. stammen oder ob der sie zur Kenntnis nahm, konnten sie nicht feststellen. Im Wesentlichen, sagen Ermittler, hätten sie „Alltagskommunikation“ auf seinem Handy gefunden.
Unwohl habe er sich bei dem Treffen gefühlt, sagten mehrere Angeklagten vor den Richtern des 5. Strafsenates aus. Irgendwie, „als sei er da in etwas hineingeraten, mit dem er nichts zu tun haben wollte“. Er sei, sagen Menschen, die Ulf R. näher kennen, ein Prepper gewesen. Also jemand, der sich auf mögliche Krisen wie Stromausfälle, Unruhen oder Kriege vorbereitet, indem er Vorräte anlegt, zum Teil in Wäldern versteckt. Der Überlebenskurse besucht, in denen er lernt, Wasser trinkbar aufzubereiten oder wie aus Birkenrinde Brot gebacken werden kann. Strafbar ist so etwas nicht. „Dann hätte man ja Rüdiger Nehberg verhaften müssen“, sagt ein Kriminaler und spielt auf den international bekannten Überlebenskünstler aus Hamburg an.
Gegen Ulf R. habe das LKA „wenig bis gar nichts in der Hand gehabt“. Deshalb habe man im Frühjahr 2020 den Staatsanwältinnen des GBA empfohlen, den Beschuldigten aus der Untersuchungshaft zu entlassen, in die er – wie alle anderen Beschuldigten mit Ausnahme des schwadronierenden Informanten – am 15. Februar 2020 genommen wurde. Der GBA, so eine Sprecherin, äußere sich „zu Fragen der Kommunikation mit anderen Behörden grundsätzlich nicht“ und bewerte „auch einzelne Ermittlungsmaßnahmen nicht“. Ulf R. war von seiner Unschuld überzeugt. Er sei „weggesperrt wie ein Hochkrimineller. Schatz, ich bin das nicht!“, schrieb er zum Abschied. Und: „Ich wollte eine Erklärung dafür, dass ich für etwas, das ich nicht getan habe und nie vorhatte, so bitter, bitter böse bezahlen muss.“
Oberstaatsanwältin soll sich erklären
R.s letzten Brief enthielten die Staatsanwältinnen des Generalbundesanwaltes den Richtern, Verteidigern und Angeklagten fast zwei Jahre vor. Er wurde dem Gericht erst übergeben, als Verteidiger beantragten, den Brief als Beweismittel beizuziehen. Oberstaatsanwältin Judith Bellay übergab ihn, wollte ihn aber nur in Auszügen an die Prozessbeteiligten weitergegeben wissen; Rechtsanwalt Günther Herzogenrath-Amelung, von der Witwe R.s mandatiert, hingegen vollständig. Die Verteidiger Jörg Becker und Heiko Hofstätter wollen von der Anklägerin jetzt versichert bekommen, dass sie über keine weiteren Dokumente oder Informationen mehr verfügt, die nicht in die Akten genommen und dem Gericht vorgelegt wurden: „Wir sind empört, dass sie Aktenteile vorsätzlich zurückhält. Das ist ein ungeheuerlicher Vorgang!“