Franz Rogowski in „Lubo“ Foto: dpa/Francesca Scorzoni

Zum Endspurt bei den Filmfestspielen von Venedig haben „Holly“ und „Memory“ einen starken Auftritt. Für den Darsteller-Preis bringt sich der Deutsche Franz Rogowski mit „Lubo“ in Position. An diesem Samstag ist die Preisverleihung.

Nach Flucht und Unterdrückung in den vorangegangenen Tagen kristallisierten sich auf den letzten Metern der 80. Internationalen Filmfestspiele von Venedig Trauma und Erinnerung als weitere Themen heraus, die gleich in mehreren Filmen eine zentrale Rolle einnahmen.

Der Brand einer Schule, der einige Kinder das Leben kostete, steht am Anfang der Geschichte in „Holly“ von der belgischen Regisseurin Fien Troch, die am Lido erstmals im Wettbewerb vertreten ist. Die 15-jährige Titelheldin (Cathalina Geraerts), die genau wie ihr neurodivergenter bester Freund Bart (Felix Heremans) eine Außenseiterin ist, die täglich Bullying durch Mitschüler erlebt, hatte sich an dem Tag mit einem unguten Gefühl krankgemeldet. Diese vermeintliche Vorahnung sowie die empathische Art der stillen, eigenbrötlerischen Jugendlichen fallen einer Lehrerin auf, die sie in ihre Wohltätigkeits-AG einlädt. Erst geht es dort nur darum, trauernden Hinterbliebenen Trost zu spenden, doch bald sind immer mehr Menschen davon überzeugt, dass Holly heilende Kräfte hat, und bieten ihr sogar Geld für ein paar Momente der Nähe.

Hexe oder Heilige

Trochs Protagonistin erinnert durchaus an Stephen Kings „Carrie“, doch echten Horror sollte man von diesem auch mit Geld aus Luxemburg und den Niederlanden entstandenen Film ebenso wenig erwarten wie eine klare Antwort auf die Frage, ob das als Hexe wie Heilige gleichermaßen bezeichnete Mädchen nun tatsächlich übernatürlich begabt ist oder nicht. Vielmehr spinnt die Regisseurin und Drehbuchautorin ein eigenwilliges, faszinierendes und durchlässiges Netz aus Coming-of-Age- und Mystery-Elementen sowie Fragen nach Glauben oder Gruppenzwang. Zum ganz großen Wurf fehlt dem Skript am Ende vielleicht der letzte, bezwingende Einfall. Doch die Schauspielführung, die Arbeit von Kameramann Frank van den Eeden und der elektronische Score von Johnny Jewel machen „Holly“ zu einem würdigen Wettbewerbsfilm, der nachwirkt.

Jessica Chastain als trockene Alkoholikerin

Beklemmung ist auch in „Memory“ angesagt, dem neuen Film des mexikanischen Regisseurs Michel Franco, der schon häufiger auf Englisch und nun zum zweiten Mal in den USA gedreht hat. Dass er seine Arbeiten stets selbst produziert und keinerlei Firmen involviert, gegen die sich der aktuelle Streik der dortigen Schauspiel- und Drehbuch-Gewerkschaften richten könnte, hatte für das Festival den Vorteil, dass nun doch noch einmal Prominenz aus Hollywood den Lido beehrte. Am vorletzten Festivaltag gab sich Francos Hauptdarstellerin Jessica Chastain erst bei der Pressekonferenz und später auf dem roten Teppich die Ehre und brachte endlich jene Art von hochkarätigem Glamour mit, den in den zurückliegenden Tagen kein noch so auffällig gekleidetes lokales TV-Starlet ersetzen konnte. Auch auf der Leinwand überzeugte die Oscar-Gewinnerin. Wo „Holly“ auf Atmosphäre setzt, werden die Abgründe in „Memory“ deutlich greifbarer. Sylvia (Chastain) ist trockene Alkoholikerin, alleinerziehende Mutter einer Teenagertochter und arbeitet in Brooklyn als Pflegerin. Als sie ihre Schwester (Merritt Wever) zu einer Highschool-Reunion begleitet, folgt ihr von dort Saul (Peter Sarsgaard) bis nach Hause. Während Sylvia zunächst nicht weiß, was er von ihr will, entpuppt sich die Begegnung und nicht zuletzt die dadurch geöffnete Tür zur Vergangenheit für beide als folgenreich.

Exzellente Hauptdarsteller in „Memory“

Zwei auf unterschiedliche Weise verloren durchs Leben treibende Menschen rückt Franco ins Zentrum seines siebten Films. Dass beide auf der Suche nach Liebe sind, lässt sie dabei einander näherkommen, doch es ist die Erinnerung, die ihnen im Weg zu stehen droht. Während es ihr nicht gelingt, erlittene Traumata hinter sich zu lassen, würde er nur allzu gerne festhalten an dem bisschen, was ihm von früher bleibt. Das Ergebnis ist ein bewegendes, oft auch erschütterndes Drama, das zum Glück nie frei von Hoffnung ist und sich ganz auf seine exzellenten Hauptdarsteller verlassen kann.

Im Kontext des Wettbewerbs wirken sowohl „Holly“ als auch „Memory“ ungeachtet ihrer Qualität fast bescheiden, doch das muss im Rennen um den Goldenen Löwen nicht unbedingt ein Nachteil sein. Michael Manns „Ferrari“ oder „Maestro“ von und mit Bradley Cooper hatten deutlich epischere Ambitionen und waren mit mehr visuellem Pomp angetreten, doch gerade Ersterer hatte gezeigt, dass in solchen Fällen auch die Schwächen umso deutlicher zutage treten.

„Poor Things“ und „Green Border“ bieten am meisten Gesprächsstoff

Geht man danach, welche Filme auch nach zehn Festivaltagen anhaltend den meisten Gesprächsstoff in Venedig bieten, gibt es für die an diesem Samstag stattfindende Preisverleihung vor allem zwei Favoriten. Yorgos Lanthimos’ Romanverfilmung „Poor Things“ mit Emma Stone ist noch immer der nicht zuletzt aus kreativer und visueller Sicht überwältigendste Beitrag im diesjährigen Programm, während kein Werk emotional so naheging und so viel politischen Sprengstoff barg wie „Green Border“ von Agnieszka Holland.

Was nicht heißt, dass die Jury unter dem Vorsitz von Damien Chazelle nicht auch anderes Preiswürdiges zu sehen bekam. Für den Darsteller-Preis etwa brachte sich kurz vor Schluss nach Jan Bülow in „Die Theorie von allem“ noch ein weiterer Deutscher in Position: Im dreistündigen, mehrere Jahrzehnte umspannenden Historiendrama „Lubo“ des Italieners Giorgio Diritti stellt Franz Rogowski als Jenischer, der nach einem Zwangseinsatz in der Schweizer Armee und dem Tod seiner Frau seine drei Kinder sucht, einmal mehr sein Ausnahmekönnen unter Beweis.