Szene aus „Green Border“ Foto: Agata Kubis

Venedig geht ins letzte Festivaldrittel und präsentiert harte Kontraste: Im Geflüchtetendrama „Green Border“ übt Agnieszka Holland bittere Kritik an der europäischen Einwanderungspolitik, „Hit Man“ ist eine bekömmliche Actionkomödie.

Beziehungsdramen, Familiengeschichten und die Schwierigkeiten, zu sich selbst zu finden, dominierten in diesem Jahr bisher den Wettbewerb um den Goldenen Löwen, von „Ferrari“ und „Maestro“ bis „Poor Things“ oder „Dog Man“. Bis jetzt eher selten auf der Leinwand zu sehen waren jene Themen, die unsere Gesellschaft umtreiben. Mit Beginn des letzten Festivaldrittels hat nun auch die Tagespolitik das filmische Geschehen in Venedig erreicht.

Die „Green Border“, also die grüne Grenze, die dem Film von Agnieszka Holland den Namen gibt, ist jene zwischen Belarus und Polen, der Heimat der 74-jährigen Regisseurin. Dorthin ist im Herbst 2021 eine sich über mehrere Generationen, vom Großvater bis zum Säugling erstreckende Familie aus Syrien auf dem Weg. Doch das Versprechen, über Minsk unkompliziert auf EU-Boden zu kommen, ist ein fahrlässiges: Präsident Lukaschenko lässt Geflüchtete nur deswegen in sein Land, um sie schnell weiter nach Polen zu schleusen und sie so, als Protest gegen ihn verhängte Sanktionen, zum Problem der Europäischen Union zu machen.

Tödlicher Teufelskreis

Kaum in Polen angekommen, frierend, hungernd, am Ende ihrer Kräfte, befinden sie sich in der von der Regierung eingeführten Hochsicherheitszone, wo für die Grenzsoldaten die üblichen Gesetze nicht gelten und sie die Familie mitsamt einer aus Afghanistan entkommenen Lehrerin in Missachtung aller Menschenrechte umgehend zurück nach Belarus verfrachten und somit in einen fast immer aussichtslosen, nicht selten tödlichen Teufelskreis schicken.

Neben den Geflüchteten selbst nehmen Holland und ihre Mitstreiterinnen Kamila Tarabura und Katarzyna Warzecha auch andere Figuren in den Fokus, einen jungen polnischen Grenzsoldaten und seine schwangere Freundin zum Beispiel oder eine Therapeutin, die sich angesichts der sich direkt vor ihrer Haustür abspielenden Katastrophe einer Gruppe von Aktivisten anschließt. Menschlich ist der Anblick des in Schwarz-Weiß-Bildern gezeigten Elends kaum zu ertragen und das Anliegen der immer schon politisch engagierten Regisseurin stets unverkennbar.

Ganz großer Favorit

„Green Border“ ist das Abbild versagender Humanität und eine harsche, bittere Kritik an Polens Einwanderungspolitik (und damit auch an der EU allgemein), die umso deutlicher wird, wenn sie am Ende des Films zeigt, wie gänzlich anders wenige Monate später der Umgang mit jenen Menschen war, die vor dem russischen Angriffskrieg aus der Ukraine flohen. Dass der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro „Green Border“ schon mit Propaganda aus dem Dritten Reich verglich, spricht Bände. Für die Preisvergabe auf dem Lido an diesem Samstag gilt der Film als einer der ganz großen Favoriten.

Von der Sklaverei übers Kastensystem zum Holocaust

Ähnlich wie Holland ist auch Ava DuVernay eine Filmemacherin, die mit ihrer Agenda nicht hinter dem Berg hält. „Origin“ ist der fünfte Spielfilm der Amerikanerin und die Adaption des in den USA 2020 erschienenen, sehr erfolgreichen Sachbuchs „Caste: The Origins of Our Discontent“. Es geht DuVernay dabei in erster Linie um die Bebilderung und das Greifbarmachen der Thesen der Autorin Isabel Wilkerson, die darauf pocht, dass man es sich zu einfach macht, alle heutigen Unterdrückungsdiskurse nur auf das Thema Rassismus herunterzubrechen. Vielmehr nimmt sie das Kastensystem in den Fokus – und stellt nachvollziehbar den Zusammenhang zwischen der Sklaverei und ihren bis heute nachwirkenden Folgen, den früher „Unberührbare“ genannten Dalit und dem Holocaust her.

Ein Philosophieprofessor als Berufskiller

Dass DuVernay dafür das Mittel des Spielfilms gewählt hat und obendrein die Autorin selbst zur von Aunjanue Ellis verkörperten Protagonistin macht, mag der eine oder die andere manipulativ finden. Doch als Mittel, die komplexen Inhalte auch einem Publikum zugänglich zu machen, das womöglich sowohl um Sachbücher als auch um Dokumentarfilme einen Bogen macht, ist ihr Ansatz ungemein effektiv. Und den hochinteressanten, bezwingenden Theorien Wilkersons tut auch ein Übermaß an Emotionen in diesem auch in Berlin und Delhi gedrehten Film keinen Abbruch.

Wem statt so viel (gesellschafts-)politischem Tobak der Sinn eher nach leichtfüßiger Unterhaltung stand, wurde derweil außerhalb des Wettbewerbs fündig. Dort zeigte Richard Linklater seinen neuen Film „Hit Man“, der dem Titel nach eine von mehreren Auftragmördergeschichten im diesjährigen Venedig-Programm ist, nur dass es hier um einen Philosophieprofessor geht, der sich nebenbei für die Polizei undercover als Berufskiller ausgibt, um auf diesem Weg Straftäter zu überführen.

Charisma im Überfluss

Was sich daraus entspinnt, ist letztlich eine waschechte romantische Komödie, in der „Top Gun: Maverick“-Star Glenn Powell (der auch am pointenreichen Drehbuch mitschrieb) in der Titelrolle und die Puerto-Ricanerin Adria Arjona an seiner Seite mit Charisma im Überfluss und exzellentem Timing aufwarten. Schwungvolle, leicht bekömmliche Kost – und womöglich gerade deswegen auf dem Lido so stürmisch gefeiert wie kaum ein anderer Film in diesem Jahr.