AOK-Sportfachkraft Dagmar Kihl rät zu Bewegungsritualen im Alltag, um den Rücken fit zu halten - zum Beispiel nur noch im Stehen zu telefonieren. Foto: Stefanie Schlecht

Sportfachkraft Dagmar Kihl von der AOK Stuttgart-Böblingen erzählt im Gespräch, warum so viele Menschen Rückenleiden haben, wieso es falsches Sitzen gar nicht gibt und worauf es in puncto Rückengesundheit ankommt. Start einer mehrteiligen Serie.

Einer Studie der AOK zufolge ist jeder sechste AOK-Versicherte wegen Rückenschmerzen in Behandlung. Ein anderer Bericht der AOK besagt, jeder Vierte dieser 4,4 Millionen Rückenschmerz-Patienten in den letzten fünf Jahren dauerhaft beim Arzt war. Frauen davon häufiger als Männer. Woran liegt das denn, dass heutzutage beinahe jeder Rücken hat?

Dagmar Kihl: Das liegt an unserer Alltagssituation. Wir haben uns im Laufe der letzten Jahre zu Vielsitzern entwickelt. Nach dem Aufstehen geht es an den Frühstückstisch, wir setzen uns ins Auto oder in die S-Bahn, dann an den Arbeitsplatz. Wir sitzen beim Mittagessen und abends auf dem Sofa. Da ist nicht viel Platz für Bewegung, doch unser Körper und unsere Muskulatur brauchen die Bewegung. Gerade in Kombination mit Stress - ob in der Freizeit oder auf der Arbeit - ist das schlecht für die Muskulatur. Sie verspannt, wird nicht mehr durchblutet und das führt dann zu Beschwerden und zu Schmerzen.


Und warum sind Frauen davon häufiger betroffen als Männer?

Frauen haben es da leider von der Anatomie her schwerer. Das weibliche Becken ist anders aufgebaut, ist etwas breiter, der Beckenausgang ist etwas größer und die knöcherne Struktur gerade im unteren Rückenbereich ist instabiler. Die Muskulatur, die Bandstruktur ist auch flexibler, was durch hormonelle Schwankungen in der Schwangerschaft oder in der Menopause verstärkt wird.

Was sind denn typische Krankheitsbilder von Rückenschmerzen?

Die klassischen Verspannungen natürlich, bis hin zu starken, unerträglichen Schmerzen und zum Hexenschuss. Das sind die Klassiker mit rund 80 Prozent. Dann gibt es natürlich noch Rückenprobleme, die durch Unfälle oder Verletzungen bedingt sind, etwa ein Schleudertrauma nach einem Unfall oder der Bandscheibenvorfall. Wobei Bandscheibenvorfälle tatsächlich nur etwa drei bis fünf Prozent ausmachen.

Das Thema Sitzen ist für die Rückengesundheit ziemlich entscheidend. Richtig sitzen klingt etwas banal - wie sitzt man denn richtig?

Das richtige Sitzen gibt es so gar nicht. Natürlich sprechen wir in der Ergonomie von aufrechtem Sitzen, von einem langen Rücken. Dennoch würde auch das zu Einseitigkeiten und Fehlbelastungen führen. Wichtig ist, dass wir uns eigentlich fast schon eher "lümmeln" - dass wir uns viel bewegen, getreu dem Motto: Die nächste Sitzposition ist die beste.

Welche Rolle spielt denn der richtige Stuhl beim Sitzen?

Auch den richtigen Stuhl gibt es nicht. Der Stuhl kann natürlich unterstützen und der richtige Schreibtischstuhl sollte daher bestimmte Funktionen erfüllen: Er sollte höhenverstellbar sein und die Rückenlehne sollte einstellbar sein. Dennoch kann ein guter Schreibtischstuhl nur unterstützen, Bewegung gehört dazu.

Was empfehlen sie denn, wenn manche Arbeitnehmer nur einen Küchenstuhl im Home-Office haben?

Wer nur den Küchenstuhl zur Verfügung hat, sollte den Sitzplatz möglichst häufig wechseln, sich andere Sitzmöglichkeiten suchen. Und ganz wichtig: Immer mal wieder aufstehen, im Stehen arbeiten - gerade Telefonieren eignet sich dafür gut.

Sie haben jetzt mehrfach betont, wie wichtig Bewegung ist. Was kann denn helfen, sich immer wieder zu erinnern, mal kurz aufzustehen?

Am leichtesten ist es, wenn man sich kleine Rituale über den Tag verteilt aneignet, wie etwa das Zähne putzen. Das haben wir früh gelernt und machen wir inzwischen automatisch. Genauso sollte man kleine Bewegungspausen in den Tag integrieren. Diese Rituale sollten man in ruhigeren Zeiten beginnen, um in stressigen Zeiten gar nicht mehr darüber nachdenken zu müssen.

Rückengesundheit klingt vor allem nach einem Thema für Ältere. Warum ist es denn aber so wichtig, auch oder gerade in jungen Jahren etwas für den Rücken zu tun?

Das Problem fängt heutzutage schon bei Kindern und Jugendlichen an. Sei es, dass die Eltern ihre Kinder bis vor die Schule fahren oder das viele am Handy sitzen - so beginnt der Bewegungsmangel von klein auf. Man kann daher nie früh genug mit Ausgleichsgymnastik und ausreichend Bewegung anfangen und so dafür sorgen, dass es erst gar nicht zu Beschwerden im Rücken kommt.

Welche Sportarten eignen sich da denn am besten, um den Rücken zu stärken und zu trainieren?

Für die Rückengesundheit empfehle ich vielseitige Sportarten wie Skilanglauf, Schwimmen, Walken oder Joggen. Keine einseitigen Sportarten wie Tennis. Im Kraftbereich kann das ein Fitnessstudio mit einem guten Trainingsplan sein. Was aber auch nicht zu kurz kommen darf, ist der Spaß - die Bewegung sollte Spaß machen, weil sonst bleibt man nicht dran.

Wenn die Rückenschmerzen nun aber da sind: Was sollte man denn dann tun und was nicht?

Was man unbedingt tun sollte, ist sich trotzdem zu bewegen - so gut es eben möglich ist. Schonhaltungen sollte man dabei vermeiden, genauso stilles Sitzen oder Liegen. Stattdessen sanfte und moderate Bewegungen, so natürlich wie möglich, um die Muskulatur wieder aufzulockern und die Verspannungen zu lösen. Wenn der Schmerz vorbei ist, empfehle ich als Erstes Physiotherapie und zur weiteren Kräftigung ein Rückenstudio oder Fitnessstudio.