Der Steinbruch Schachen in Weinstadt-Strümpfelbach ist ein Lost Place – verlassen und fast vergessen. Zu seiner spannenden Geschichte gehören ein jahrelanger Streit zweier Dörfer, eine Feldbahn und italienische Arbeiter, die Spuren hinterlassen haben. Unsere Serie über Lost Places
Ortsfremde, die durch den lichten, ruhigen Wald im Strümpfelbacher Gewann Schachen spazieren, ahnen nicht, dass hier zu Anfang des 20. Jahrhunderts Hochbetrieb herrschte: Ein Trupp Männer arbeitete sich an dieser Stelle mit Muskelkraft, Hammer und Meißel und der Hilfe von Sprengstoff durch den Kieselsandstein. Sogar eine dampfbetriebene Feldbahn schnaufte von hier gen Strümpfelbach – schwer beladen mit den Felsbrocken, die für den Bau der heutigen Landesstraße 1201 zwischen Strümpfelbach und Endersbach verwendet wurden.
Die Schienen sind längst abgebaut, die Zeitzeugen vor vielen Jahren gestorben, und an den Steinbruch erinnern nur noch wenige Felsblöcke, die aus dem Hang ragen. Auf manchen stehen Bäume, die sich mit ihren Wurzeln am Gestein festkrallen. „Die Felsen gingen mal bis ganz da unten“, sagt Herbert Wilhelm und zeigt den Hang hinab. Die Straße, die am früheren Steinbruch vorbeiführe, sei erst Anfang der 1950er Jahre gebaut worden.
Die Steinkammer für Sprengstoff steht noch
Herbert Wilhelm ist ein echter Strümpfelbacher – im Jahr 1940 in einem Fachwerkgebäude an der Hauptstraße geboren und aufgewachsen. Bis heute lebt er dort. Den Steinbruch hat er nie in Betrieb erlebt – denn der wurde vermutlich stillgelegt, sobald die Straße fertig war. Irgendwann im Frühjahr 1908 war es wohl so weit: Am 30. April 1908 wurde die Straße offiziell eingeweiht.
Aus Erzählungen, zum Beispiel seiner Eltern, kann Herbert Wilhelm dennoch vieles berichten. Er weiß zum Beispiel, an welcher Stelle die gemauerte Steinkammer zu finden ist, in der Sprengstoff gelagert wurde. Mit Hammer und Meißel schlugen die Arbeiter Löcher ins Gestein, führten pulverförmiges Donarit ein und sprengten den Fels. Ein Schmied aus dem Ort habe draußen am Steinbruch eine Feldschmiede betrieben. Auch andere Männer aus dem Dorf schafften im Steinbruch, aber wohl in Teilzeit, vermuten Herbert Wilhelm und Werner Kuhnle vom ortsansässigen Weingut. „Da konnten sie etwas dazuverdienen. Die Leute hatten ja Landwirtschaft.“ Viele betrieben Weinbau und verkauften Kirschen. Auch einige italienische Arbeiter waren im Steinbruch tätig. Sie sind auf zwei Fotos, die im Archiv der Stadt Weinstadt aufbewahrt werden, zu sehen. Das eine zeigt den Steinbruch im Betrieb, etliche Männer und viele Kinder posieren für die Kamera. Herbert Wilhelm deutet auf eine kleine Gruppe, die ganz hinten und etwas abseits steht: Die Italiener, sagt er, hätten nicht vorne aufs Foto gedurft.
Einige Arbeiter stammten aus Italien
Woher die Arbeiter genau kamen, wo sie übernachteten – das weiß heute niemand mehr. Nach der Vollendung der Straße sind aber offenbar alle weitergezogen. Dennoch hat der ein oder andere Spuren hinterlassen, heißt es. Werner Kuhnle formuliert es diplomatisch: „Es wird vermutet, dass zumindest noch ein Nachkomme eines italienischen Arbeiters in Strümpfelbach lebt.“
Das Foto aus dem Steinbruch stamme wohl aus dem Jahr 1907, vermutet Stadtarchivar Bernd Breyvogel – so wie auch das Bild, das die italienischen Arbeiter mitsamt der Feldbahn und Mitgliedern der Familie Mödinger zeige. Diese kam ins Spiel, als die ursprünglich mit dem Straßenbau beauftragte auswärtige Firma Luipold und Schneider im August 1907 pleite machte. Die Gemeinde brauchte eine andere Firma und beauftragte einen örtlichen Lohnunternehmer mit dem Weiterbau der Straße.
So viel vorneweg: Der Bankrott der ersten Baufirma war nur eines von mehreren Hindernissen beim Bau der Straße, die der Archivar Bernd Breyvogel schon als „Quantensprung in der Geschichte der Verkehrsanbindung Strümpfelbachs“ bezeichnet hat. Schloss sie doch den am Ende eines Tals gelegenen Ort an den Rest der Welt an. Zwar existierte mit der Alten Endersbacher Straße, die sich unterhalb der Weinberge und an der Kelter vorbeischlängelte, schon zuvor eine Wegverbindung – doch die war stellenweise ziemlich steil, eng, kurvig und oft matschig. „Das Wasser lief halt die Hänge herunter“, sagt Herbert Wilhelm. „Die Strümpfelbacher wollten mit sauberen Schuhen nach Endersbach kommen und in den Zug steigen“, sagt Bernd Breyvogel.
Touristen scheuen den schlechten Weg
Die Ortschronistin Sophie Weishaar zitiert in „Strümpfelbach im Remstal“ aus einem Schreiben von 1905 einen weiteren Aspekt: So mancher Weinkäufer werde abgehalten, in Strümpfelbach zu kaufen, „da die Abfuhr auf der Straße schlecht ist“ und „mancher Tourist scheut den schlechten Weg und geht dorthin, wo er bessere Wege findet“.
Pech für die Strümpfelbacher war, dass die Endersbacher kein großes Interesse an einer neuen Straße hatten, deren Trasse obendrein fast komplett auf Endersbacher Markung verlief. Im Gegenzug verweigerten die Strümpfelbacher den Verkauf der Backenbrunnenquelle an Endersbach. Der Streit währte rund drei Jahre, erst 1906 einigten sich die Ortschaften auf die neue Trasse. Die schlug mit rund 120 000 Mark zu Buche, berichtet Bernd Breyvogel aus alten Protokollen. Wegen diverser Zuschüsse musste Strümpfelbach exakt 37 299,92 Mark berappen. Für die Einweihungsfeier wurden 25 Flaggen gemietet und der „Schuljugend“ Brezeln „verabreicht“.
Der Steinbruch hatte seinen Zweck erfüllt, die Natur eroberte das Gelände zurück. Während der Zeit des Naziregimes nutzten die Männer des Dorfes den verlassenen Ort als Schießbahn. Daran erinnert bis heute ein Erdwall am Fuße des Geländes.
Lost Places
Geheimnisvolle Orte in der Region
Dieser Begriff beschreibt verlassene Orte, oftmals handelt es sich um aufgegebene, dem Verfall überlassene Gebäude. Nicht immer haben diese historische Bedeutung. Gemein ist ihnen ihre geheimnisvolle Aura. „Lost Place“ ist ein Pseudoanglizismus, der sich im deutschsprachigen Raum etabliert hat.
Serie
In loser Folge stellen wir Lost Places in der Region Stuttgart vor, erzählen ihre Geschichte und dokumentieren fotografisch ihr morbides Ambiente. Manche dieser Orte sind offen sichtbar, andere verfallen – teils seit Jahrzehnten – unbemerkt von der Öffentlichkeit.