Auch in diesem Istanbuler Wahllokal herrschte Andrang. Foto: IMAGO/SNA/IMAGO/Sertac Kayar

Mit Ehrfurcht beinahe walten in Istanbul die Wahlhelfer ihres Amtes. Denn die Schicksalwahl für ihr Land muss unbedint korrekt ablaufen.

Um zwölf Uhr musste ein Helfer im Wahllokal 1188 die Urne schütteln, um Platz für weitere Stimmen zu schaffen: Die grünen Umschläge mit den Stimmzetteln für Präsident und Parlament verkanteten sich beim Einwurf in die transparente Plastikbox, so hoch war der Haufen schon. Ein Mädchen mit Pferdeschwanz, eine Frau mit Kopftuch, ein älterer Mann mit Schiebermütze und zwei Burschen mit modernen Haarschnitten wachten im Klassenzimmer einer Berufsschule im Istanbuler Stadtteil Beyoglu über den korrekten Ablauf der Wahl zu Parlament und Präsidentenamt in der Türkei für die 315 Wähler ihres Stimmbezirks: Ausweis vorzeigen, Stimmzettel und Stempel entgegennehmen, in der Kabine stempeln, Umschlag zukleben, in die Kiste stecken und schließlich beim Wahllokalleiter unterschreiben.

Sehr hohe Wahlbeteiligung erwartet

Hier und in rund 190 000 anderen Wahllokalen entschieden die Türken am Sonntag, ob es in ihrem Land mit oder ohne Präsident Recep Tayyip Erdogan weitergehen soll. Eine Niederlage Erdogans nach 20 Jahren an der Macht wäre der Beginn einer neuen Ära. Umfragen sagten einen knappen Sieg von Erdogans Herausforderer Kemal Kilicdaroglu voraus. Wenn kein Kandidat auf Anhieb mehr als 50 Prozent der Stimmen erhält, fällt die Entscheidung über das Präsidentenamt in einer Stichwahl in zwei Wochen.

Lange Schlangen vor vielen Wahlkabinen deuteten am Sonntag auf eine noch höhere Wahlbeteiligung als bei der letzten Wahl 2018 hin; damals hatten 88,2 Prozent der Wähler abgestimmt. Diesmal sind 64 Millionen Türken wahlberechtigt, darunter fünf Millionen Erstwähler, deren Stimmen entscheidend sein könnten. Laut der Opposition waren eine halbe Million Wahlbeobachter im Einsatz, laut des Innenministeriums wurden 600 000 Polizisten aufgeboten.

Erdogan betete zum Abschluss seines Wahlkampfes am Samstagabend in der Hagia Sophia, der byzantinischen Reichskirche, die er vor drei Jahren vom Museum zur Moschee umgewidmet hatte. Anhänger jubelten dem Präsidenten in dem proppenvollen Gotteshaus zu und skandierten „Allahu ekber“ - Gott ist groß. In einer Ansprache an die Gläubigen unter der Kuppel der Hagia Sophia sagte Erdogan, die ganze islamische Welt blicke auf die Türkei. Auch die Feinde des Islam würden die Entwicklungen in der Türkei aufmerksam verfolgen. Er bete, dass Gott sie aufhalten werde.

Wahlkampf an symbolträchtigen Orten

In seinem letzten Fernsehauftritt vor der Wahl unterstrich Erdogan, dass er die Entscheidung der Wähler respektieren und jedes Ergebnis der Wahl akzeptieren werde. Er glaube an das türkische Volk und habe dessen Willen immer respektiert. Das erwarte er auch von seinen politischen Gegnern, wenn er am Sonntag im Amt bestätigt werde.

Erdogans nationalistischer Bündnispartner Devlet Bahceli machte bei seiner letzten Kundgebung in Antalya mit derben Sprüchen auf sich aufmerksam. „Wenn Hans, Sam, Tony, Johnny, Herkel und Frank alle zusammen Recep Tayyip Erdogan ficken wollten, würden sie das nicht schaffen“, rief Bahceli. Damit meinte er offenbar ausländische Staaten wie Deutschland, Amerika und Großbritannien – doch wer „Herkel“ sein sollte, darüber rätselten die Türken in den sozialen Medien.

Oppositionskandidat Kilicdaroglu beschloss seinen Wahlkampf am Mausoleum von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk in Ankara, wo er am Vorabend der Wahl rote Nelken niederlegte. „Wer wagt, gewinnt“, schrieb er auf Twitter dazu. „So haben wir es von Atatürk gelernt.“ Die Vorsitzende der zweitstärksten Partei im Oppositionsbündnis von Erdogan, Meral Aksener, warnte in ihrer letzten Wahlkampfrede vor Rachegelüsten: „Lasst uns Herrn Erdogan höflich und respektvoll verabschieden.“

Frei und gleich leben

Bei der Abschlusskundgebung der kurdischen Grünen-Links-Partei im osttürkischen Van meldete sich der inhaftierte Kurdenführer Selahattin Demirtas zu Wort, als die Organisatoren eine Sprachnachricht von ihm über die Lautsprecher abspielten. „Wir wollen frei und gleich in diesem Land leben“, sagte Demirtas zum Jubel der Kundgebungsteilnehmer. „Ich bin hier (in der Zelle), aber mein Herz ist bei euch und ich vertraue auf euch. Wir werden gemeinsam die Freiheit erleben.“

Demirtas sitzt seit 2016 im Gefängnis, obwohl das Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg seine Freilassung angeordnet hat. Die Opposition hat angekündigt, die Straßburger Urteile umzusetzen, wenn sie die Wahl gewinnen sollte, und Demirtas, den Kulturmäzen Osman Kavala und andere politische Gefangene freizulassen.