Bunt, geschichtsträchtig und divers bestückt: Der Hauptpavillon der diesjährigen Biennale in Venedig. Foto: IMAGO/Frank Ossenbrink Foto: IMAGO/Frank Ossenbrink/IMAGO/Frank Ossenbrink

Der erste Biennale-Chef aus Südamerika hat es sich zur Aufgabe gemacht, all jene in der Szene sichtbarer zu machen, die vom Westen bisher wenig wahrgenommen wurden: Indigene, Queere, Schwule, Geflüchtete, Migranten. „Foreigners everywhere“ nennt Adriano Pedrosa die Schau.

Vermutlich würden sie lecker schmecken. Kakao, Zucker und Palmöl sind schließlich die Ingredienzien der meisten süßen Verführungen, die in unseren Supermärkten locken. Doch diese eigenwilligen fratzenhaften Gestalten dürfen nicht berührt, geschweige denn gegessen werden. Denn der Erlös aus den Skulpturen soll zur Heilung und Wiedergutmachung eingesetzt werden – für Mensch und Natur, die im Kongo ausgebeutet werden für den westlichen Konsum.

Heilung ist ein Begriff, auf den man vielfach stößt bei der 60. Kunstbiennale von Venedig, die an diesem Wochenende offiziell eröffnet wird – wobei das Fachpublikum schon vorab Schlange stehen durfte an den Länderpavillons, Ausstellungen und zahllosen „Collaterali“, den Nebenschauplätzen, um doch nur feststellen zu müssen, dass sie mit ihrer Expertise nicht weit kommen. Denn allein die mehr als 300 Künstlerinnen und Künstler in den Hauptausstellungen kennt man im westlichen Kunstbetrieb bisher nicht.

Homoerotische Scherenschnitte

Adriano Pedrosa, der künstlerische Leiter, hat sich ein hehres Ziel gesetzt und will nicht weniger, als Kunstgeschichte neu erzählen und dabei all jene in den Fokus rücken, die der dominante Westen bisher nicht zur Kenntnis genommen hat – Künstlerinnen und Künstler aus Mexiko, Argentinien und Brasilien, aus Nigeria, Irak oder Libanon. Als Brasilianer ist er der erste Biennale-Chef aus Südamerika und hofft, dass etwa all die indigenen Positionen auch nach der Biennale in den Institutionen wahrgenommen und sichtbar bleiben werden. Auch die Queer-Community ist stark vertreten. Er sei selbst schwul, sagt Pedrosa.

So sieht man in den zentralen Ausstellungen nicht wie in europäischen Museen üblich nackte Frauen, sondern viele nackte Männer, junge Männer, erregte Männer – etwa von Bhupen Khakhar, einem der ersten Künstler in Indien, die schwule Szenen darstellten. Ungewöhnlich sind auch die Scherenschnitte des Chinesen Xyadie, der homoerotische Szenen darstellt. Aber auch Transgenderpersonen tauchen vielfältig auf – wie auf einer riesigen, fast kitschigen Wandmalerei, die ein positives Bild indischer Transgenderfrauen vermitteln will.

So folgt Pedrosas Konzept dem Trend der Zeit, nicht das Werk ins Zentrum zu rücken sondern die Identität der Akteure, was so problematisch wie notwendig ist, um die globale Geschichte der Moderne neu erzählen zu können. Um zu dokumentieren, dass die Indigenen zu Amerika gehören, malt Kay WalkingStick, Tochter eines Cherokee, amerikanische Landschaften, auf denen sie Motive der Indigenen ergänzt. Aber auch die Wiederbelebung traditionellen Handwerks ist ein Mittel, um Wunden zu heilen, die Kolonialismus, Ausbeutung, Versklavung hinterlassen haben. So wurde eine dachähnliche Flechtarbeit von Maori-Frauen zwischen den Backsteinsäulen des Arsenale verspannt oder gleitet man durch Stoffbahnen, die mit Heilpflanzen gefärbt wurden. Mit ästhetischen Kategorie kommt man bei vielen der Arbeiten nicht weit, stattdessen muss wie so oft viel gelesen werden, um Licht in die komplexen globalen Verstrickungen zu bringen.

Heilung, Heimweh und Empathie

„Foreigners everywhere“ hat Pedrosa seine Ausstellung überschrieben, „Fremde überall“. Das kann jeden von uns meinen, aber betrifft auch die zahllosen Migrationsströme quer über den Erdball. Bei der Videoinstallation „Mapping Journey“ lässt die marokkanische Künstlerin Bouchra Khalili Menschen in Videos von ihren Fluchtrouten erzählen, die sie auf Landkarten nachzeichnen. Oft scheinen sie nicht enden zu wollen – wie bei dem jungen Marokkaner, der nach jahrelangem Hin und Her zwischen Spanien und Frankreich nur noch eines will: in die Heimat zurückkehren.

So werden auf dieser Biennale vor allem die großen Themen unserer Zeit verhandelt, während sich die tagesaktuellen eher durch die Hintertür eingeschlichen haben. Ruth Patir will ihren Beitrag im israelischen Pavillon erst zeigen, wenn der Krieg beendet ist. Der russische Pavillon sollte geschlossen bleiben, wurde nun aber Bolivien zur Verfügung gestellt, das nach Informationen der Zeitung „taz“ im Gegenzug Lithium nach Russland exportieren soll.

Einer der stärksten Beiträge dieser Biennale findet sich im polnischen Pavillon. Eine Künstlergruppe erinnert an die Ukraine mit einer Art Karaoke-Bar. Geflüchtete ahmen in Videos die Geräusche des Krieges nach: „TUH, TUH, TUH“ oder „ZZZZZZ, HHHHH, BUEH“. Es ist ein mörderisches Konzert, in das man trotz der ständigen Aufforderung „Repeat after Me“ ganz gewiss nicht einstimmen will.

Internatione Kunstschau

Deutscher Pavillon
Die Organisation des deutschen Beitrags wird vom Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart organisiert. Die Auswahl der Künstler wird von einem Kurator oder einer Kuratorin getroffen. In diesem Jahr ist das Çağla Ilk, die in Berlin am Theater gearbeitet hat und inzwischen die Kunsthalle Baden-Baden leitet.

Info
bis 24. November, täglich außer montags (Ausnahme: 22. April, 17. Juni, 22. Juli, 2. und 30. September, 18. November. Bis 30. September 11 bis 19 Uhr, Freitag und Samstag 11 bis 20 Uhr. Ab 1.Oktober 10 bis 18 Uhr. adr