Polarisiert wie kaum ein Senatskandidat: der Republikaner Herschel Walker. Foto: imago//Robin Rayne

Erstmals in der US-Geschichte ringen bei den Zwischenwahlen zum Kongress zwei Afroamerikaner um einen Senatssitz. Warum das Duell zwischen Raphael Warnock und Herschel Walker so wichtig ist.

Tony Dunn hat den Footballstar der Georgia „Bulldogs“ aus seiner Heimatstadt Atlanta als Teenager bewundert. Obwohl er dasselbe College besuchte, für das Herschel Walker die begehrte Heisman-Trophäe gewann, hat der ehemalige Cheerleader an der University of Georgia heute jeden Respekt für sein einstiges Vorbild verloren. Das liegt nicht nur an der Nähe des Senatskandidaten der Republikaner zu Donald Trump, sondern an Walkers Abwesenheit in der schwarzen Gemeinde von Atlanta.

„Er ist wie eine Kokosnuss“, sagt Tony, der das Recyclingprogramm eines großen Lebensmittelkonzerns in Atlanta managt, „außen braun und innen weiß.“ Herschel sei an der University of Georgia „wie ein Goldjunge behandelt worden“. Er könne die Erfahrung anderer schwarzer Männer nicht teilen, die er jetzt umwirbt.

Pfarrer kämpft gegen Footballstar um Senatssitz

Dunn engagiert sich vor den Zwischenwahlen zum Kongress als Cheerleader eines anderen Afroamerikaners, der vor zwei Jahren mit ein paar Tausend Stimmen Vorsprung bei einer Stichwahl einen vakant gewordenen Sitz im US-Senat errungen hatte: Raphael Warnock, der die Ebenezer Baptist Church leitet, von deren Kanzel einst Bürgerrechtler Martin Luther King gepredigt hatte.

Der Demokrat tritt bei den „Midterms“ für eine volle Amtszeit von sechs Jahren an. In den letzten Umfragen liegt der Pfarrer der „King-Kirche“ im Herzen Atlantas Kopf an Kopf mit dem Footballstar. Unterwegs im Wahlkampf spricht Warnock über seine ärmliche Herkunft als elftes von zwölf Kindern. Er wuchs in einem „Projekt“ in der Hafenstadt Savannah auf. Sein Vater schlug sich mit Jobs im Fuhrgeschäft durch, seine Mutter pflückte Tabak und Baumwolle.

Dass der Staat ihm half, treibt den Prediger an, für einen leichteren Zugang zu bezahlbarer Bildung, Gesundheitsversorgung und Wohnraum zu streiten. „Es gibt keinen Beweis dafür, dass dieser Mann nur die geringste Zeit damit verbracht hat, sich über Dinge den Kopf zu zerbrechen, die mich nachts umtreiben“, zeichnet Warnock bei einem Wahlkampfauftritt in Douglasville südlich von Atlanta einen scharfen Kontrast zu Walker. „Ich möchte, dass alle eine Chance haben.“

Nationalisten sind politische Ziele wichtiger als Hautfarbe

Der Footballstar bezeichnet den sanftmütigen Senator mit der randlosen Brille deshalb als „Marxisten“. So kürzlich in Rome, im Nordwesten Georgias, an der Seite der Abgeordneten Majorie Taylor Greene, einer weißen Nationalistin aus dem Dunstkreis der QAnon-Verschwörer. Warnock mache „alles kaputt, was er anfasst“, hält Walker dem Senator vor. Zusammen mit Joe Biden sei er für Inflation, Kriminalität und unkontrollierte Einwanderung verantwortlich.

Bei dem blütenweißen Publikum kommt das an, wie auch in anderen ländlichen Regionen des Südstaates, die oft zu mehr als 90 Prozent Trump unterstützt hatten. Hier hinterfragt niemand, warum der College-Abbrecher behauptet, einen Summa-cum-laude-Abschluss zu haben. Oder wie er darauf kommt, aus einem als Souvenir überreichten Sheriffstern abzuleiten, ein Polizist zu sein.

Die Politologin Tammy Greer vom renommierten Clark-College in Atlanta interpretiert den Auftritt an der Seite Greenes als „Okay“ an die weißen Nationalisten in der Partei, für einen Schwarzen zu stimmen. „Die langfristigen Politikziele sind wichtiger, als wer er ist“, erklärt Greer, warum Walker trotz einer Fülle an Widersprüchen, Defiziten und Skandalen mit Warnock gleichauf liegt.

Das unterstreicht auch Peter Hjort, der aus Rome stammt, aber jetzt in einem wohlhabenden Vorort von Atlanta lebt. Letztlich gehe es um die Macht, sagt der eher traditionelle Republikaner. Präsident Biden und Warnock hätten ein „ökonomisches Desaster“ angerichtet. „Ich entscheide mich für eine bestimmte Politik, weniger für die Person.“

Republikaner auf dem Land in der Überzahl

Charles Bullock weiß aus seiner Forschung als Politologe der University of Georgia, dass die Republikaner das „rote Meer“ um die „blauen Inseln“ gewinnen müssen. Damit gemeint sind überwältigende Siege auf dem Land, um die Stärke der Demokraten in den urbanen Ballungsgebieten um Atlanta, Savannah und College-Städten wie Athens auszugleichen. Das erklärt, warum Walker vor allem republikanische Hochburgen besucht.

Vor seinem Auftritt in Rome feuerte Walker auf der Appalachian Gun Pawn and Range in Jasper ein paar Salven ais einer halb automatischen AR-15 ab. Diese stammte aus derselben Fabrikation in Georgia wie die Waffe, die bei dem Massaker in der Schule von Uvalde zum Einsatz kam. Kein Problem für den Kandidaten, der das Schießeisen anschließend signierte, um es meistbietend zu versteigern. Diese Form der Direktheit gilt unter Republikanern als Stärke. Wie dort auch Sätze beklatscht werden, wie dieser von Walker zu den Gefahren des Klimawandels: „Haben wir nicht genügend Bäume hier?“

Brad und Judy Fogel können über die Sprüche des Kandidaten nicht lachen. „Wir gehören zu den fünf Demokraten im Dorf“, sagen die beiden Navy-Veteranen, die im ländlichen Dawsonville nördlich von Atlanta leben. „Wir müssen vorsichtig sein, was wir sagen“, berichten die beiden am Tag des brutalen Angriffs auf den Ehemann der demokratischen Speakerin Nancy Pelosi aus ihrem Alltag. „Hier leben eine Menge ‚Rednecks‘.“

Demokraten hoffen auf Neuwählerinnen

Die Demokraten hoffen, dass das Abtreibungsurteil des Supreme Court vom Juni Frauen mobilisiert, die unter der strikten Sechswochenfrist Georgias jetzt kaum mehr Zugang zu einem legalen Schwangerschaftsabbruch haben. Wie viele unter den 1,6 Millionen neu registrierten Wählern das motiviert hat, lässt sich schwer abschätzen.

Kyla Deal gehört zu der Zielgruppe, auf die Warnock und Stacy Abrams setzen, die für das Gouverneursamt antritt. „Ich bin wütend“, sagt die 21-Jährige, die zum ersten Mal in ihrem Leben wählen geht. Sie lebt auf dem Land in Canton und möchte ihre Stimme den Demokraten geben. „Ist das nicht verrückt, dass andere Leute über meinen Körper entscheiden wollen?“ Ihr Freund Judson O’Connor, dessen Eltern Trump-Wähler sind, nickt. Seine Schwester sehe das genauso und werde auch den Demokraten ihre Stimme geben.

Walker streitet Vorwürfe ab und erhält Rückendeckung

Zu den Vorwürfen gegen Walker, zwei Lebenspartnerinnen in der Vergangenheit zur Abtreibung gedrängt und diese auch bezahlt zu haben, hat Kyla nur einen Kommentar: „Heuchler.“ Trotz klarer Indizien wie Rechnungen, Schecks, persönliche Karten, Botschaften und Zeugenaussagen streitet der strikte Abtreibungsgegner die Vorwürfe kategorisch ab.

Der harte Kern seiner Anhänger sieht den Teufel am Werk. Sprichwörtlich. Der weiße Pastor der First-Baptist-Megakirche von Atlanta trommelte nach den Beschuldigungen der ersten Freundin Anfang Oktober die „Gebetskrieger für Herschel“ zusammen. Die Anwesenden hielten die Hand über den Kandidaten, während der Gottesmann die Hilfe der Engel herbeirief. „Wir bitten dich, das Böse zurückzuweisen, damit Satan nicht siegt“, betete Pastor Anthony George.

Politologe Bullock sagt, die Evangelikalen seien so verlässliche Wähler für die Republikaner wie die Afroamerikaner für die Demokraten. Neun von zehn gäben jedem Kandidaten ihre Stimme, „egal welche moralischen Mängel diese Person aufweist“.

Zum Beispiel Mary Lynn Sobel aus Alpharetta im suburbanen Speckgürtel von Atlanta. Sie hält Walker „für nicht perfekt“. „Aber er ist ein Christ, der Vergebung gesucht hat.“ Die drei unehelichen Kinder oder die häusliche Gewalt, von der Walkers erste Ehefrau berichtet hatte, seien ein alter Hut. „Soweit ich sehen kann, gibt es keine neueren Vorwürfe.“

Walker setzt bei Wählergewinnung auf Opferbotschaft

Die Unterstützung für den Footballstar liegt in den Umfragen unter der für Gouverneur Brian Kemp, der Trump bei dem Versuch die Stirn geboten hatte, den Wahlausgang in Georgia zu manipulieren. Während 95 Prozent der Republikaner Kemp im Amt bestätigen wollen, liegt die für Trumps Senatskandidaten unter den Parteigängern zehn Prozent niedriger. Walker könnte das nach Ansicht von Politologin Greer durch Zugewinne unter schwarzen Männern ausgleichen. Einige seien anfällig für dieselbe Opferbotschaft, die weiße Männer auf dem Land anspricht. „Die lassen euch im Stich.“

Besorgt von dem Trend raunte Senatsführer Chuck Schumer vergangene Woche versehentlich vor offenen Mikrofonen Biden zu, in Georgia ginge es bergab. „Kaum zu glauben, dass jemand wie Herschel Walker gewählt wird.“

Obama unterstützt Wahlkampf der Demokraten

Der Präsident selbst kann wenig daran ändern, da fast sechs von zehn Befragten in dem Südstaat mit seiner Amtsführung nicht zufrieden sind. Stattdessen setzen die Demokraten auf Barack Obama. Der erste schwarze US-Präsident elektrisierte vergangene Woche bei einer Kundgebung mehr als 7000 Anhänger in einer Arena unweit des Flughafens von Atlanta.

„Ihr habt mich vielleicht als Präsident gemocht, aber bestimmt nicht als Defensivspieler der (Bull-)Dogs“, stellte Obama die Qualifikation des Footballstars augenzwinkernd infrage. Walker sei nichts anderes als „eine berühmte Person, die Politiker sein möchte – wir haben gesehen, wozu das führt“.

Tony Dunn ahnt es. Der Cheerleader für Warnock tauchte bei der Kundgebung in einem selbst geschneiderten Kostüm auf. Als wandelndes Sternenbanner verkörpert er eine Mischung aus Supermann der Demokratie und Freiheitskämpfer. „Ihm fehlt jede Glaubwürdigkeit“, spricht Dunn aus, was Warnock über seinen Rivalen nur indirekt sagt. Warnock stehe auf den Schultern des Bürgerrechtlers King, während der Footballstar auf den Rechten der Bürger herumtrampele.

Und dennoch kann Walker gewinnen oder eine Stichwahl erzwingen, denn in Georgia braucht der Sieger 50 Prozent der Stimmen. Am 8. November könnte sich der Ausgang der Wahlen von 2020 wiederholen und bis Dezember offenlassen, wer künftig die Mehrheit im Senat haben wird. Der Südstaat hätte sich als Ground Zero amerikanischer Politik etabliert, der von Ray Charles in seinem Klassiker so treffend besungen wird. Dann hieße es nicht nur für die Strategen der Parteien, sondern die ganzen USA: „Georgia on my Mind“.