In Böblingen gibt es Übergangszimmer für aus der Haft entlassene Menschen. Foto: Florian Thierer

Viel Erfahrung, hohe Akzeptanz: Quereinsteiger sind als Mitarbeiter in der Straffälligenhilfe besonders gefragt. Alex Sowa und Mirjam Lutz bringen besondere Kompetenzen mit.

Nach dem Gefängnis zurück in die Gesellschaft – kein leichter Weg. Vor gut 50 Jahren gab es für Straffällige im Landkreis Böblingen dabei keine professionelle Unterstützung. Engagierte Bürger erkannten diese Not und gründeten im Jahr 1971 in Herrenberg den Arbeitskreis „Resozialisierung“. Ein Jahr später entstand daraus ein Verein, der stetig wuchs und seine Hilfeangebote erweiterte: die heutige diakonische Organisation Fortis. „Unsere Wurzeln liegen in der Straffälligenhilfe und bis heute ist das ein wichtiger Leistungsbereich des Vereins“, sagt Fabian Schnieders.

Er leitet unter anderem das Team Straffälligenhilfe und hat als einziger hauptberuflicher Mitarbeiter des Bereichs vor dem Studium keinen anderen Beruf erlernt. Alle sechs Mitarbeiter in diesem Bereich haben eine andere berufliche Erstqualifikation und sich dann weiter gebildet. Der Chef findet das gut: „Sie haben einen anderen Zugang zur beruflichen Realität der Klienten, die zumeist nicht studiert haben. Wenn es um pädagogische Zusammenhänge geht, können sie das mit einfließen lassen.“ Wer selbst einmal einen Lebensentwurf verworfen und sich aufgerafft habe, neu zu starten, könne Brüche in Biografien nachempfinden.

20 Leute kommen im Schnitt im Jahr bei Fortis unter

Die erste Wohngemeinschaft für aus der Haft Entlassene entstand in Gärtringen. Nach mehr als 30 Jahren verlegte Fortis diese ins neu gebaute und bis heute bestehende Helmut-Lang-Haus in Böblingen. Namensgeber Helmut Lang war Pfarrer und langjähriger Vorstand des Vereins. Im Gebäude gibt es zehn Einzelzimmer, als zwei Wohngemeinschaften mit gemeinsamen Küchen und Bädern konzipiert. Die Aufnahme kann bei Aussetzung der Untersuchungshaft, nach Haftverkürzung und im Anschluss an die Haftentlassung erfolgen. Rund 20 Leute kommen dort im Jahresschnitt unter. Zudem betreut Fortis etwa 30 Straffällige in ambulanten Wohnungen, 18 beim Nachsorgeprojekt Chance und vermittelte in über 150 Fällen gemeinnützige Arbeit.

Sozialarbeiter wie Alex Sowa und Mirjam Lutz schätzen ihren abwechslungsreichen Job ebenso wie gute Anstellungsbedingungen nach dem Tarifvertrag im Öffentlichen Dienst. „Wir helfen zum Beispiel bei Briefen an die Justiz, an Gläubiger, bei der Wohnungs- und Jobsuche und bei vielen individuellen Schwierigkeiten“, erklärt Sowa. Oberstes Ziel: Eine Perspektive für ein straffreies Leben erarbeiten.

Burn-out, arbeitslos und jetzt fast ein Weltretter

Er betreut seit knapp zwei Jahren Menschen mit eigenen Wohnungen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Im Erstberuf ist er Einzelhandelskaufmann, seine Kollegin Lutz gelernte Friseurin. „Ich musste mir meinen Weg erkämpfen“, sagt Lutz, die seit sechs Jahren für Fortis arbeitet. „Es hat sich gelohnt.“

Bereits als Jugendlicher war Sowa selbst ehrenamtlich für andere tätig. Er holte nach der Ausbildung und nach drei für ihn eher langweiligen Jahren in der Buchhaltung eines Unternehmens das Abitur nach, wollte Theologie studieren. Als die Eltern schwer erkrankten und starben, verwarf er das und fiel er in ein Loch. „Ich hatte einen Burnout und war arbeitslos“, sagt Sowa. Er schlug sich mit 1-Euro-Jobs durch. „Ich weiß, wie sich das anfühlt.“ Schließlich fand er eine Ausbildungsstelle als Jugend- und Heimerzieher und arbeitete sieben Jahre in der Jugendhilfe. Ähnlich wie dort geht es in der Straffälligenhilfe um Themen der Verselbstständigung. „Deshalb hat mich die Stelle bei Fortis direkt angesprochen“, sagt Sowa. Er schätzt die Arbeit mit Erwachsenen. „Ich will nicht die Welt retten, aber ein paar Menschen konkret helfen, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.“

„Klienten sind keine Monster“

Mirjam Lutz betreut zehn Bewohner im Helmut-Lang-Haus. „Als Teenager war ich eine faule Socke“, gibt sie zu. Sie schaffte gerade so den Hauptschulabschluss und träumte davon, in Kroatien einen Friseursalon zu eröffnen. Deshalb lernte sie diesen Beruf. Als ihr Arbeitgeber pleiteging, jobbte sie Vollzeit in der Gastronomie. „Irgendwann habe ich mir gesagt: Das kann noch nicht alles gewesen sein“, erzählt Lutz. Auch sie holte Realschule und Abitur nach, auf dem zweiten Bildungsweg studierte sie mit Mitte 20 Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Gesundheitswesen: „Bei Problemen in Freundeskreis sind die Leute schon immer oft zu mir gekommen.“ Bei einem Praktikum in einer Fachklinik für Suchtkranke kam sie in Kontakt mit Straffälligen. „Im Gegensatz zu Jugendlichen haben Erwachsene eine höhere Eigenverantwortung“, sagt Lutz. Deshalb falle ihr die persönliche Abgrenzung leichter. Die meisten Straftaten, sagt sie, entstehen suchtbedingt und durch finanzielle Notlagen. „Meistens hängt beides zusammen. Unseren Klienten hat das Leben oft böse mitgespielt, das sind keine Monster“, so Lutz. Angst habe sie keine, gesunden Respekt sehr wohl: „Wir kommunizieren direkt und auf Augenhöhe“. Neben speziellen Fortbildungen für die Arbeit in der Straffälligenhilfe besuchen die Fortis-Mitarbeiter regelmäßig Schulungen zum Beispiel zu den Themen Sucht, Schulden, Gesprächsführung, psychischen Störungen und Deeskalation. Im Strafgesetzbuch müssen sie sich nicht im Detail auskennen, wohl aber mit den Sozialgesetzen.

„Ohne Lebenserfahrung geht es in der Straffälligenhilfe nicht“, sagt Sowa. Im Team bei Fortis schätzt er gerade das und die verschiedenen Charaktere: „Jeder hat andere Ideen.“ Quereinsteiger, bestätigt Lutz, können ganz eigene Impulse einbringen. „Wer selbst einmal falsch abgebogen ist, befindet sich viel näher an der Lebenswelt unserer Klienten.“

Teamleiter Fabian Schnieders kann sich sogar vorstellen, noch einen Schritt weiter zu gehen: Ein früherer Häftling könnte Mitarbeiter werden. „Der hätte nochmal einen anderen Zugang und eine ganz andere Glaubwürdigkeit bei den Klienten“, sagt Schnieders. Momentan ist das Zukunftsmusik, da es keinen geeigneten Kandidaten gibt. „Als sozialer Träger würden wir gerne genau diese Offenheit für Resozialisation selbst beweisen.“

Ein Verein, viele Angebote

Jubiläum
Gegründet 1972, feiert die diakonische Organisation Fortis in diesem Jahr ihren 50. Geburtstag. 110 Mitarbeiter sind im Landkreis Böblingen für den Verein von Standorten in Herrenberg,Sindelfingen, Böblingen und Leonberg aus tätig.

Betreuung
Jährlich werden über 1000 Menschen mit psychischer Erkrankung, Abhängigkeitserkrankung und Messie-Symptomatik ebenso wie Straffällige und Wohnungslose betreut und unterstützt. In einer losen Artikel-Serie geben wir Einblick in diese zugleich kaum bekannte wie gesellschaftlich bedeutsame Arbeit.