Bringt aktuell Ärger: die Buslinie 709 in Böblingen. Foto: Stefanie Schlecht

Die 88-jährige Marianne Kulinat wohnt am Rauhen Kapf und fährt mit der Buslinie 709 regelmäßig in die Böblinger Innenstadt. Wegen Personalmangel wird die Linie zurzeit umgeleitet. Das sorgt am Rauhen Kapf für Unmut.

Der Mangel an Fachkräften ist derzeit in aller Munde. Besonders betroffen sind laut Institut der Deutschen Wirtschaft Berufe in den Bereichen Sozialarbeit, Erziehung und Pflege. Doch nicht nur da ist der Mangel ein Problem. Auch im Straßenverkehr ist er bemerkbar. Das Verkehrsunternehmen Pflieger, das für den Stadtverkehr in Böblingen und Sindelfingen zuständig ist, hat damit derzeit zu kämpfen. Dazu kommen laut Stadt Böblingen „spontane Krankheitsfälle und erfolglose Bemühungen zur Gewinnung von neuem Personal.“ Deshalb hat Pflieger Ende Mai für gut drei Monate einen Interimsfahrplan eingesetzt. Bis zum 10. September fahren elf Linien anders als sonst.

Marianne Kulinat bekommt das zu spüren. Die 88-Jährige wohnt auf dem Rauhen Kapf und fährt regelmäßig in die Innenstadt. Dort nimmt sie in der Bahnhofstraße Arzttermine wahr, geht einkaufen oder leitet das Salonorchester für Senioren in der Festen Burg. Normalerweise geht das mit der Buslinie 709 ganz einwandfrei. Sie steigt beim Rauhen Kapf ein, fährt je nach Vorhaben zur Klaffensteinstraße oder zum Postplatz und steigt da aus. Kein Umstieg, keine Warterei.

„Unser ganzes Wohngebiet ist von der Böblinger Innenstadt isoliert“

Durch die Umstellung des Fahrplans jedoch fahren die Busse der Linie 709 diese Stationen aktuell nicht an. Stattdessen fahren sie nach der Station Hallenbad über die Haltestellen Reiterhof, Stettiner Straße und Landratsamt zum ZOB. Was nach keinem riesigen Umweg klingt – schließlich bringt einen der Bus immer noch in die Innenstadt –, kann je nach Mobilität durchaus zu einem unüberwindbaren Hindernis werden. Für die 88-jährige Marianne Kulinat ist es das. „Das Busunternehmen hat mit seiner Umstellung unser ganzes Wohngebiet von der Böblinger Innenstadt isoliert“, schreibt sie in einem Brief an unsere Zeitung.

Sie hat von der Umgestaltung des Fahrplans im Amtsblatt gelesen und sie kurz darauf bereits am eigenen Leibe gespürt. Nach einigen Versuchen, in die Stadt zu kommen, habe sie unter anderem das Verkehrsunternehmen Pflieger selbst kontaktiert und über die Probleme aufgeklärt. „Die haben am Telefon gesagt, sie können da auch nichts machen“, erzählt sie. Der Tipp, sie könne ja am Hallenbad umsteigen und mit der Linie 760 weiter in die Innenstadt fahren, funktioniert für sie nicht. „Da stehst du eine halbe Stunde, ehe der Bus kommt“, sagt sie. „Und vor allem ist die Bank zum Hinsetzen da so niedrig, dass wir Alten nicht mehr hochkommen.“

Besonders ärgerlich findet Marianne Kulinat, dass an den neu angefahrenen Haltestellen gar niemand ein- oder aussteigt. Das hat sie selbst festgestellt, als sie die Strecke ausprobiert hat. Dem widerspricht der Landkreis Böblingen, der als Aufgabenträger für den Stadtverkehr zuständig ist: „Die Sicherstellung der ÖPNV-Anbindung des Quartiers Tiergartenstraße (Haltestelle Reiterhof) wurde im Zuge eines Abwägungsprozesses als vorrangig erkannt.“

Eine Alternative für die Seniorin: „Ich fahre mit der Taxe zum Elbenplatz“, sagt die 88-Jährige. Das koste sie jedes Mal 15 Euro. Aufgrund der hohen Kosten fahre sie manchmal vom ZOB wieder zurück nach Hause. Doch auch das sei anstrengend: „Das Rumstehen, die Hitze, und während der Schulzeit ist es auch noch so voll.“ All das macht ihr zu schaffen.

„Wir sind eben schon ein bisschen alt hier oben“

Und nicht nur ihr. Marianne Kulinat spricht auch für andere Anwohner in ihrer Nachbarschaft, die mit den Einschränkungen zu kämpfen haben. „Wir sind eben schon ein bisschen alt hier oben“, sagt sie. Bei einem Fest hätten sie bereits Oberbürgermeister Stefan Belz auf die Situation angesprochen. „Er war sehr kommunikativ“, erzählt sie. Belz habe zugesichert, etwas versuchen zu wollen. „Ich habe gesagt: Wenn Sie es schaffen, komme ich mit einer Flasche Sekt“, sagt Marianne Kulinat, und fügt dann hinzu: „Ich wollte ja nicht meckern, ich hab nur gesagt, es ist ein echter Bedarf.“

Dass der Oberbürgermeister in dieser Angelegenheit helfen kann, ist allerdings eher unwahrscheinlich. Schließlich ist der Landkreis zuständig. Hätte der Kreis also die Möglichkeit, zu helfen? Leider auch nicht: „Der Stadtverkehr wird eigenwirtschaftlich durch das Verkehrsunternehmen Pflieger betrieben.“ Das bedeutet, dass Pflieger allein dafür zuständig ist, den Stadtverkehr am Laufen zu halten. Auch wenn man im Landratsamt durchaus Verständnis für Marianne Kulinats Situation hat, heißt es dennoch: „In einem Stadtverkehrsnetz dieser Größe kann nicht jede Relation als Direktverbindung angeboten werden, insbesondere soweit die hierzu notwendigen Personalressourcen nicht verfügbar sind.“ Wenn Personal fehlt, muss das Unternehmen einen Antrag beim Regierungspräsidium Baden-Württemberg stellen, um den Fahrplan umzustellen.

Und genau das hat das Busunternehmen im Mai gemacht. Auch die Stadt Böblingen ist dazu angehört worden. „Bei der Anhörung hatte die Stadt eine ablehnende Position eingenommen, da der ÖPNV für Böblingen einen wichtigen Baustein für die mobile Teilhabe, für den Klimaschutz und für eine umweltfreundliche Mobilität darstellt“, teilt Pressesprecher Fabian Strauch mit. Nun stehe man mit den relevanten Akteuren in Verbindung.

Was also tun? In diesem Fall heißt es wohl: Augen zu und durch. Immerhin ist die Veränderung des Fahrplans nur noch bis Mitte September geplant, danach müsste alles wieder wie zuvor laufen. Ob der Fachkräftemangel dann behoben ist, bleibt offen. Das Unternehmen Pflieger war zu diesem Thema leider nicht zu erreichen.

Informationen im Internet für viele ältere Menschen nicht einsehbar

Die Geschichte zeigt neben dem Fachkräftemangel ein weiteres Dilemma auf: Viele der Informationen sind oft nur im Internet einsehbar. Die Dauer des Interimsfahrplans etwa kann man einer Mitteilung im Internet entnehmen, oder auch weitere Umstieg-Möglichkeiten, die keine halbe Stunde Wartezeit beinhalten. Für viele – insbesondere ältere – Menschen ist das Internet allerdings keine Informationsquelle.