Am Dienstag bleiben die Kinderarztpraxen im Rems-Murr-Kreis zu Foto: Imago/Zoonar/Kasper Ravlo

Am kommenden Dienstag sollen bis auf einen Notdienst alle Kinderarztpraxen im Rems-Murr-Kreis geschlossen bleiben. Die Ärzte wollen auf die nach ihrer Auffassung katastrophale Versorgungslage aufmerksam machen.

Wer sich für kommenden Dienstag um einen Termin bei seinem Kinderarzt bemüht, wird im Rems-Murr-Kreis – über das ohnehin schon übliche Maß hinaus – das Nachsehen haben. Denn alle im Landkreis ansässigen entsprechenden Doktoren haben sich entschlossen, an diesem Tag ihre Praxen geschlossen zu lassen und stattdessen zu protestieren – gegen eine aus ihrer Sicht völlig unzureichende Versorgungslage.

Rein rechnerisch zu viele Arztpraxen

Dabei ist die Pädiatrie-Welt im Rems-Murr-Kreis rein rechnerisch eigentlich mehr als in Ordnung. Laut der Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Baden-Württemberg gilt der Landkreis sogar als überversorgt, der Versorgungsgrad liegt demnach aktuell bei fast 112 Prozent. Wenn sich ein entsprechender Mediziner in einer Kommune zwischen Spiegelberg und Fellbach niederlassen wollte, die KV dürfte das gar nicht genehmigen.

Die Realität hingegen sieht völlig anders aus: Immer wieder berichten insbesondere verzweifelte neuzugezogene Eltern, in der Nähe ihres Wohnortes keinen Arzt für ihre Kinder zu finden, weil diese – wenn überhaupt – nur Neugeborene aufnähmen. Eine Mutter aus Fellbach beispielsweise, die für ihre Buben einen Termin für die U-3-Vorsorgeuntersuchung ausmachen wollte, war über die für solche Fälle eigens eingerichtete Terminservicestelle der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) nach Ditzingen im Landkreis Ludwigsburg vermittelt worden. Und eine werdende Mutter von Zwillingen hatte unserer Zeitung unlängst ihren Leidensweg auf der Suche nach einem künftigen Arzt für ihre noch ungeborenen Kinder geschildert, der erst endete, als sie sagte, diese dann eben privat über ihren Mann versichern zu wollen.

Veraltetes System bei der Bemessung von Arztsitzen

Ein Hintergrund für die Schere zwischen Theorie und Praxis ist ein veraltetes System bei der Bemessung von Arztsitzen. Der Gesetzgeber hat in den 1990er-Jahren sogenannte Kontingente eingeführt, um den Kostenanstieg im Gesundheitswesen zu begrenzen. Also Obergrenzen für die Zulassung von Fachärzten, die aber selbst nach Ansicht derer, die sie verwalten müssen, nicht mehr zeitgemäß sind. Die Versorgungszahlen spiegelten, wenn überhaupt, nur in Ansätzen den tatsächlichen Bedarf wider, räumt der Sprecher der KV Baden-Württemberg, Kai Sonntag, ein. Besonders deutlich werde das bei den Kinder- und Jugendärzten, bei denen zwar in fast allen Landkreisen rechnerisch eine Überversorgung verzeichnet werde, tatsächlich aber überall Versorgungslücken beklagt würden.

Während die Berechnungsgrundlage bis heute nur marginal aktualisiert worden ist, hat sich der Behandlungsaufwand für die Leistungen im Bereich der Pädiatrie enorm verändert. Eine ganze Reihe von Vorsorgeuntersuchungen, die mittlerweile von den Kinderärzten geleistet werden, hat es damals noch gar nicht gegeben. Hinzu kommen nun noch Auswirkungen und Hinterlassenschaften aus der Corona-Zeit.

Es gibt zu wenige Ärzte

Für Kai Sonntag ist die Bedarfsplanung, die, wie er betont, nicht von der KV bestimmt, sondern zwischen Arzt- und Krankenkassenvertretern ausgehandelt werde, mittlerweile gar nicht mehr das entscheidende Problem: „Es ist nicht mehr so, dass uns die Arztsitze fehlen. Wir haben zu wenige Ärztinnen und Ärzte.“ Das zeige sich daran, dass es durchaus freie Arztsitze gebe. In der Region etwa wären in den Kreisen Göppingen und Böblingen Praxis-Neueröffnungen möglich, in Stuttgart und Ludwigsburg sind jeweils Anteile ausgeschrieben.

Dass diese nur schwer besetzt werden können, ist nach Ansicht von Ralf Brügel, Obmann der Kinderärztinnen und Kinderärzte aus dem Rems-Murr-Kreis, auch eine Folge der sich immer mehr verschlechternden Arbeitsbedingungen. Die Situation habe sich für die Kinderärzte in den vergangenen Jahren so dramatisch verändert, dass es, wenn man nicht sehr schnell gegensteuere, für viele Jahre schwerwiegende Folgen für die Versorgung der Kinder haben werde, sagt Ralf Brügel voraus. Denn die Praxen seien völlig überlastet – und immer mehr Kinder erhielten keine angemessene Gesundheitsversorgung mehr.

Brandbrief und Arbeitsniederlegung

Das alles haben er und seine Kollegen unter dem Titel „Die Gesundheitsversorgung unserer Kinder ist massiv bedroht“ in einen offenen Brandbrief an die Politik zusammengefasst. Und weil Papier ja bekanntlich geduldig ist, wollen sie es damit allein nicht belassen: Mit der eintägigen, geschlossenen Arbeitsniederlegung am Dienstag soll ein eindrucksvolles Signal gesetzt werden, dass es so, wie Moment, nicht mehr weitergehen könne.

Wichtiges rund um den Protesttag im Rems-Murr-Kreis

Notdienst
 Drei Praxen haben während des Protesttags am Dienstag, 27. Juni, in der Zeit zwischen 8 und 18 Uhr für dringende Fälle geöffnet: Tothi in Sulzbach, Hoffmann in Winnenden sowie Kaufhold/Fischer in Fellbach.

Diskussion
 In einer öffentlichen Podiumsdiskussion in der Barbara-Künkelin-Halle in Schorndorf, die am Dienstag um 10.30 Uhr beginnt, werden die Gründe für die prekäre Versorgungslage thematisiert.

Alle Infos unter: www.protesttag.de