Die Ukraine ist Deutschland bei digitalen Bürgerdiensten weit voraus. Hier zu Lande geht es über Online-Terminvereinbarung kaum hinaus. Bürger fordern mehr Tempo.
Maria Shevchuk ist erkennbar stolz auf den Grad der öffentlichen Digitalisierung ihres Heimatlandes. „Trotz Krieg gibt es fast jede Woche einen neuen Onlineservice für unsere Bürger“, sagt die für digitale Bürgerdienste zuständige Chefin von IT Ukraine zum Auftakt der Fachmesse Smart Country Convention in Berlin. Zuletzt sei die Möglichkeit, Kriegsschäden online zu melden dazugekommen. Basis aller Dienste ist eine App mit dem Kürzel Diia, die rund 20 Millionen Ukrainer aktiv nutzen, also fast jeder zweit Bewohner des kriegsgeschüttelten Landes. Auf Deutschland übertragen, wären das 40 Millionen Nutzer einer staatlichen Verwaltungs-App. „Da sind wir weit dahinter“, bedauert Berlins Messechef Mrio Tobias als Veranstalter der Digitalmesse.
Innenministerin Faeser verspricht ein Ende der Zettelwirtschaft
Die hatte kurz zuvor Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) eröffnet und dabei ein Ende der Zettelwirtschaft im Amt versprochen. Wann es soweit sein soll, behielt sie für sich. „In der Verwaltung können wir die gemeinwohlorientierte Digitalisierung vorantreiben, um Menschen das Leben einfacher zu machen“, hat die Ministerin erkannt. Fakt ist aber, dass Bürger vielfach nicht einmal die Digitaldienste kennen, die es schon gibt, vom Fehlen vieler Anwendungen ganz zu schweigen.
An dieser Stelle legt Ralf Wintergerst den Finger in die Wunde. „Wir sind beim Vermarkten digitaler Lösungen echt schlecht“, kritisiert der Präsident des heimischen Digitalverbands Bitkom. Der hat Bürger im Vorfeld der Messe zu ihren Erfahrungen mit der Digitalisierung in deutschen Ämtern befragt und dabei wenig Erbauliches erfahren.
Neun von zehn Befragten fordern mehr digitales Tempo im Amt
56 Prozent halten sie für rückständig, was nur ein Prozentpunkt weniger ist als bei einer Vorgängerbefragung vor drei Jahren. Unverändert fast neun von zehn Befragten fordern mehr digitales Tempo im Amt. Häufig genutzt wird einzig Online-Terminvereinbarung, was sechs von zehn Befragten schon getan haben. Danach kommt mit weitem Abstand die Nutzung eines digitalen Kontaktformulars, das aber nicht einmal jeder vierte Bürger ausgefüllt hat. Nur jeder siebte Deutsche hat online schon einen Antrag gestellt. Über ein Drittel hatte zudem noch nie digitalen Kontakt zu einer Behörde.
Andernorts dagegen ist Digitalisierung von Bürgerdiensten schon fast abgeschlossen. Lettland starte gerade den letzten Prozess in dieser Hinsicht, weiß Wintergerst. Das sei die Möglichkeit, sich digital scheiden zu lassen. Lettland wolle das bewusst kompliziert machen, um keine Scheidungswelle auszulösen. Auch die Ukraine hat das Ziel, bürgernahe Digitalisierung in naher Zukunft zu vervollständigen, sagt Shevchuk. Fast 100 digitale Bürgerdienste gebe es schon. Ein Urteil zu einem Vergleich von digitaler Verwaltung in ihrer Heimat und Deutschland verkneift sie sich. „Aber wir teilen gerne unsere Erfahrungen“, sagt die IT-Expertin.
In Europa haben baltische Staaten die Nase vorn
Die ukrainische „Super-App“ Diia sei weltweit mit am fortgeschrittensten, wenn es um digitale Bürgerdienste geht, lobt Wintergerst. Vorbild sei auch der asiatische Stadtstaat Singapur. In Europa haben baltische Staaten die Nase vorn. Am Geld oder verfügbarer Technik scheitere es in Deutschland nicht, betont Wintergerst. „Es fehlt uns an der Disziplin, sich auf eine Lösung zu einigen“, meint der Bitkom-Chef.
Viele Kommunen und Städte wollen jedes digitale Angebot selbst erfinden und stoßen dabei schon personell schnell an Grenzen, meint er damit. Bei der Digitalisierung der Verwaltungen bekomme ein föderaler Staat wie Deutschland seine Probleme, kritisiert auch Tobias und schlägt in die gleiche Kerbe.
Es brauche funktionierende zentrale Lösungen, die dann auch schnell Akzeptanz bekämen, findet Wintergerst und nennt als Beispiel digitale Steuererklärungen per Elster.
Deren Online-Plattform wird von jedem vierten Deutschen genutzt, jeder zweite kennt sie. Auf deutschen Ämtern brauche es dringend mehr Geschwindigkeit und weniger Kleinstaaterei, resümiert der Bitkom-Chef. Denn digitale Bürgerdienste seien kein nettes Extra, sondern ein wichtiger Standortfaktor.