„Ich habe gelernt, wie man mentale Stärke aufbaut,indem man das Positive sieht und sich kleine Erfolge schafft“, sagt Anna Seidel. Foto: dpa/Sebastian Kahnert

Anna Seidel ist die beste Deutsche im Shorttrack, doch auf dem Weg nach Peking muss sie nicht nur einen Rückschlag wegstecken.

Peking - Sie ist erst 23 Jahre alt, erlebt aber schon ihre dritten Olympischen Spiele. 2014 in Sotschi war die Dresdnerin 15, alles war spannend, neu, groß und aufregend. 2018 in Pyeongchang hatte sich die Shorttrackerin viel vorgenommen, sie wurde 15. (500 Meter), 16. (1500 Meter), disqualifiziert (1000 Meter) und war mächtig enttäuscht. In Peking hat sich Anna Seidel kein Ziel gesteckt, sie will sehen, was geht. „Ich habe überhaupt keinen Druck“, sagt die Vize-Europameisterin von 2021 über 1500 Meter – über diese Distanz startet sie an diesem Mittwoch (12.30 Uhr/ARD) im Capital Indoor Stadium in der chinesischen Hauptstadt.

Ein Trainingsunfall veränderte alles

Dass die Sächsin überhaupt eine Athleten-Akkreditierung besitzt, hat sie ihrem unbändigen Willen und einfühlsamen Unterstützern zu verdanken. Kurz nachdem sie in Danzig Ende Januar 2021 drei EM-Medaillen gewonnen hatte, brach sie sich im Training das Schien- und Wadenbein. Sie wurde operiert, eine Metallplatte zwischen den Knochen befestigt. „Anfangs war ich zuversichtlich“, erzählt sie, doch von Tag zu Tag wurden die Schmerzen stärker. Sie konnte nicht joggen, selbst auf dem Rad musste die Läuferin die Zähne zusammenbeißen. Am wohlsten fühlte sie sich noch auf dem Eis in ihren Schlittschuhen. Aber die taugen nicht für den Alltag.

Anna Seidel ging wie viele verletzte Sportler, für die Besserung ein Fremdwort darstellt, auf eine Odyssee, von einer Reha zur nächsten, von diesem Spezialisten zum anderen. Schien- und Wadenbein machten Fortschritte im Millimetertakt, doch die Psyche begann mit der Zeit zu kränkeln. „Ich muss mit jemandem reden, wenn ich Probleme habe“, berichtet die Dresdnerin, doch niemand war greifbar. Die Eltern nicht, der Freund Moritz Seider nicht, der in der NHL bei den Detroit Red Wings Eishockey spielt – sie durchlitt die Einsamkeit einer Shorttrackerin. Erst zwei Mentaltrainer brachten der Leidenden Techniken und Strategien bei, wie sie wieder aus dem Loch herausklettern kann. „Ich habe gelernt“, sagt Anna Seidel, „wie man mentale Stärke aufbaut, indem man das Positive sieht und sich kleine Erfolge schafft.“ Und als die Tage wieder kürzer wurden, blühte die 23-Jährige wie eine Herbstblume auf. Die Hoffnung keimte.

Die Schmerzen sind ständiger Begleiter

An die Schmerzen hat sie sich zwangsläufig gewöhnt. „Inzwischen habe ich mich damit arrangiert. Mittlerweile ist es so, dass ich es aushalte“, meint die Sportlerin vom EV Dresden. Sie kann sogar darüber scherzen, dass die Metalldetektoren im Bein bei Sicherheitskontrollen am Flughafen nicht anschlagen. „Ich war enttäuscht. Ich dachte, vielleicht piepe ich ja“, sagt sie. Beim Weltcup im Oktober 2021 lernte die Deutsche das chinesische Eis in Peking kennen, sie erkundete die Umgebung, was ihr nun ein Vorteil ist – sie kennt sich aus, das nimmt ein wenig der natürlichen Nervosität, die ein Sportler stets vor einem Wettkampf verspürt. Ein Mindestmaß an Adrenalin ist nötig.

Groß ist die deutsche Shorttrack-Delegation bei den Winterspielen nicht. Neben Anna Seidel hat lediglich Robert Becker den Flug nach China mitgemacht. Den Bundestrainer wollte die Athletin nicht dabeihaben, sie war überzeugt, dass „ein versierter Techniker wie Robert mir mehr helfen kann beim Schleifen der Kufen und was sonst noch alles anfällt“. Sie selbst war ins Team D berufen worden, obwohl sie lediglich die halbe nötige Norm vorweisen konnte – sie hätte einmal unter die Top Acht oder zweimal unter die Top 15 kommen müssen. Als Ergebnisse standen Platz neun und Platz 16, denkbar knapp verpasst. Das Peking-Ticket war der verdiente Lohn für ihr Durchhaltevermögen.

Der Lohn fürs Durchhalten

Dass die Coronamaßnahmen bei ihren dritten Winterspielen die Freude trüben, nimmt die Sächsin in Kauf: „Ich habe Olympia immerhin zweimal ohne Einschränkungen erlebt.“ Was danach kommt, ist offen. Anna Seidel will irgendwann Management studieren und nicht als Shorttrackerin den 30. Geburtstag feiern. Aber sie sagt auch, sie wolle „noch eine Saison ohne Schmerzen erleben“.