Äh, wo müssen wir jetzt hin? Karten fördern das Abstraktionsvermögen. Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Macht die Nutzung von Stadtplänen und Landkarten schlau? Sicher ist, dass sich der Umstieg auf digitale Navigation den Blick auf die Welt verändert.

Eine der wahrlich amüsanten Aufgaben, die die Moderatorin Ellen DeGeneres einmal jungen Leuten stellte, bestand darin, einen aufgeklappten Stadtplan wieder zusammenzufalten. Das Gelächter war groß, schließlich sollte in der US-Show die Generation getestet werden, die zum Smartphone greift, wenn sie den Weg nicht weiß. So altmodische Dinge wie Stadtpläne und Landkarten kennen sie bestenfalls noch vom Hörensagen – und entsprechend dämlich stellten sich einige bei der Aufgabe an.

Dabei ist es vermutlich sogar leichter, einen Stadtplan zu falten, als ihn zu lesen – und das durchaus auch, wenn man noch analog aufgewachsen ist. Denn es gehört Übung dazu, die diversen Symbole und Farben, Abkürzungen und grafischen Elemente richtig zu deuten. Da man mit dem Finger auf der Landkarte ruckzuck am Ziel ist, ist es auch eine Herausforderung, Maßstab und Dimensionen richtig einzuschätzen. Die Topografie eines Geländes tut ihr Übriges und erschwert es, die Informationen aus der zweiten in die dritte Dimension zu übertragen.

Allein das Falten eines Stadtplans kann Probleme machen

Deshalb gab es über Jahre oft Knatsch, wenn die Familie mit dem Auto unterwegs und der Vater hinterm Steuer überzeugt war, dass sich die Frau Gemahlin mal wieder selten dämlich anstellte und ihn nicht zügig genug durch irgendeine Innenstadt lotste, obwohl sie doch den Plan auf den Knien hatte. Insofern hat die elektronische Navigation ihr Gutes. Sie führt einen mitunter zwar auch in die Irre, aber heute ist das Navi schuld – und der Familienfrieden gerettet.

Beim Lernen ist Digitalisierung nicht nur positiv

Stadtpläne und Landkarten haben ihre besten Zeiten längst hinter sich – und mit ihnen werden vermutlich auch Fähigkeiten verschwinden, die man beim Falten und Lesen eines Stadtplans wie nebenbei erworben hat. Das lässt zumindest die aktuelle Debatte zur Digitalisierung an Schulen vermuten. Denn beim Unterricht zeichnet sich bereits ab, dass sich allzu viel Digitalisierung negativ auf das Lernen auswirkt, weil taktile und haptische Vorgänge wegfallen, die auch zum Lernerfolg beitragen.

Das Stockholmer Karolinska-Institut machte Schlagzeilen mit beunruhigenden Studienergebnissen: So sollen das Leseverständnis und die Erinnerung an das Gelesene um mehr als dreißig Prozent abnehmen, wenn man am Bildschirm liest. Die Materialsuche der Schüler im Internet ist den klassischen Lehrbüchern ebenfalls klar unterlegen. Deshalb verweisen auch hierzulande immer mehr Pädagogen darauf, dass das analoge Lernen deutlich effektiver sei als das digitale.

Kinder sehen sich als Mittelpunkt

Nicht alle Fertigkeiten, die bei der navigierten Reise wegfallen, sind wirklich notwendig. So kann man bestenfalls in einer Quizshow punkten, wenn man Städte oder Länder an ihrem Umriss erkennt. Man kann sicher auch verschmerzen, dass es längst junge Leute gibt, die vom Norden in den Süden „rauf fahren“. Wer mit Karten und Globen groß geworden ist, für den ist Norden automatisch oben und der Süden unten.

Gravierender könnte der grundsätzliche Perspektivwechsel sein, der mit der Nutzung von Navigationssystemen einhergeht. Mit dem Finger auf der Landkarte bewegt man sich in einer fixen Welt von einem Ort zum anderen. In der digitalen Wahrnehmung ist man dagegen immer selbst der Mittelpunkt des Geschehens – und bewegt sich die Welt auf einen zu und wieder weg. Es ist ein enormer Unterschied, ob man seinen eigenen Standort als dynamisch begreift und innerhalb eines festen Systems immer neu verortet – oder ob man sich als Zentrum der Welt definiert.

Wer an dem beschränkten Fokus festhält und an der Vorstellung, immer selbst Mittelpunkt des Geschehens zu sein, dem wird es womöglich schwerer fallen, sich auch andere Perspektiven als die eigene vorzustellen. Die Welt von der eigenen Position im Zentrum aus zu erleben, entspricht dem, wie sich Kinder orientieren und was die Psychologie als egozentrische Navigation bezeichnet.

Werden Menschen älter, funktioniert die egozentrische Orientierung zwar weiterhin, aber das eigene Navigationssystem im Gehirn bezieht die Lage von Orten nicht mehr auf die eigene Person. Hierbei spricht man von einem allozentrischen Navigationssystem, das im Kopf wie ein persönlicher Stadtplan funktioniert, auf dem man sich in Bezug zu den verschiedenen Orten setzt.

Rad- und Wanderkarten wird es noch lange geben

Wer weiß, ob die ständige Nutzung egozentrischer Navigationssysteme dazu führt, dass Erwachsene künftig auch bei der Orientierung im Alltag stärker auf ihre eigene Person fixiert sind und sich die Fähigkeit zur allozentrischen Verortung schlechter entwickelt. Bei allen Vorteilen, mit denen das stets verfügbare Navigationssystem im Smartphone durchaus aufwartet, ist es auch hilfreich, sich mitunter einen Überblick verschaffen zu können – schnell und differenziert.

Deshalb wird auch der Spezialbuchhandlung „Schropp Land und Karte“ in Berlin die Arbeit nicht so schnell ausgehen. Seit fast 300 Jahren gibt Schropp Karten heraus und beweist bis heute, dass Atlanten, Fahrrad- und Wanderkarten auf Papier so wenig ausgedient haben wie Globen. Denn Karten können viel mehr als nur leiten, sondern auch unterschiedlichste und mitunter hochkomplexe Informationen auf einen Blick vermitteln – zum Beispiel, wo die meisten Menschen leben, wie der Reichtum auf der Erde verteilt ist oder wo wie gewählt wird.

Nur in einem sind Karten auf Papier definitiv im Hintertreffen – wenn es um Aktualität geht. So kostbar ein ausführlicher Plan sein mag, Städte unterliegen einem steten Wandel. Das konnten nach der Wende besonders drastisch Berlin-Reisende erfahren, die hofften, sich auch mit ihrem alten Stadtplan in der Stadt zurechtzufinden, in der aber nicht nur die Grenze fehlte, sondern manche Straße unauffindbar war, weil man sie inzwischen umbenannt hatte.