Seydou (Seydou Sarr) in „Ich Capitano“ Foto: Greta De Lazzaris

Matteo Garrone hat schon „Pinocchio“ und andere Märchen fantastisch fürs Kino bebildert. In „Ich Capitano“ erzählt er von den Träumen und dramatischen Fluchterlebnissen zweier senegalesischer Teenager. Ab 4. April im Kino.

Die Welt der Märchen und die Welt der Wirklichkeit haben eines gemeinsam: Sie können unglaublich grausam sein. Der Italiener Matteo Garrone hat sich mit seinen Filmen mehrfach in beiden Welten bewegt. Mit „Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra“ (2008) verfilmte er etwa den Tatsachenroman von Roberto Saviano über die italienische Mafia, während er mit seinem „Märchen der Märchen“ (2015) fantastische Erzählungen bebilderte, die schon den Brüdern Grimm als Inspirationsquelle zu deren Dichtung gedient hatten.

Eine moderne Odyssee

„Ich Capitano“ ist nun ein Hybrid aus erschütternder Realität und schmerzhaft schönen Träumen, eine moderne Odyssee. Garrone begleitet zwei Jungen, den 16-jährigen Seydou (Seydou Sarr) und dessen gleichaltrigen Cousin Moussa (Moustapha Fall), die mit ihren Familien unter einfachsten Bedingungen im Senegal leben. Garrone lässt keinen Zweifel daran, dass der Alltag dort beschwerlich ist, trotzdem gibt es so etwas wie Glück. Für Seydou und Moussa liegt es in der Musik, für die Geschwister und Freunde im Tanz, in schönen Kleidern und Perücken, mit denen sie sich in eine Parallelrealität flüchten.

Seydou und Moussa genügen solche Fantasiereisen nicht; sie wollen nach Europa, um sich dort den Traum von einer professionellen Musikerkarriere zu erfüllen. Die Warnungen der anderen und die Sorgen von Seydous Mutter schlagen sie in den Wind. Mit der Hilfe von Schleppern wollen die beiden durch die Wüste nach Libyen und von dort übers Meer nach Europa.

Überwältigende Bilder

Nach europäischer Definition gelten die Teenager als Wirtschaftsflüchtlinge, die nicht vor einer unmittelbaren Bedrohung aus ihrer Heimat fortziehen. Wer diesen beiden Kindern aber die Daseinsberechtigung im vermeintlichen Schlaraffenreich Europa absprechen will, wird von Garrone in überwältigenden Bildern eines Besseren belehrt. Furchtlos und anfangs noch naiv abenteuerlustig wie der Held im Märchen „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“ treten Seydou und Moussa ihre Reise an, begegnen jedoch auf mehreren Stationen den Schrecken der Welt, wie sie Europäer nur aus Albträumen kennen. Auf dem Weg durch die Wüste sieht Seydou im heißen Sand die verwesenden Körper derjenigen, denen Kräfte und Wasser auf dem Gewaltmarsch zu früh ausgingen. Seydou versucht noch, eine Frau zu retten, deren Kreislauf kollabiert. Nach ihrem Tod träumt er, er könne die Wiederauferstandene fliegend an der Hand aus der Wüste führen. In Libyen erlebt Seydou Folter, Mord und Sklaverei, sieht, wie extrem die soziale Schere zwischen Arm und Reich auch anderswo auseinander fällt.

Unverstellter Blick auf die brutale Wirklichkeit

Voller Empathie und Fabulierlust, gleichzeitig mit unverstelltem Blick für die brutale Wirklichkeit flüchtender Menschen beschreibt Garrone Seydous und Moussas Suche nach dem Glück, das Europäern so selbstverständlich geworden ist, dass sie es immer weniger mit anderen teilen wollen. Der Titel „Ich Capitano“ bezieht sich auf Seydous letzte Station auf seinem Weg: Ohne Kenntnisse soll der Nichtschwimmer ein Boot voll besetzt mit Menschen übers Meer steuern. So etwas kann eigentlich nur im Märchen gut ausgehen.

Ich Capitano. Italien, Belgien 2023. Regie: Matteo Garrone. Mit Seydou Sarr, Khady Sy. 121 Minuten. Ab 12 Jahren. Ab 4. April im Kino.