Jasmine Trinca spielt die im Film gefeierte Maria Montessori Foto:  

Die Reformpädagogin Maria Montessori wird bis heute aufgrund ihrer fortschrittlichen Bildungsideale geschätzt. Dass sie aber auch eine dunkle Seite besaß, unterschlägt die Filmemacherin Léa Todorov in ihrem begeisterten Biopic.

Lili d’Alengy (Leïla Bekhti) stößt ihre neunjährige Tochter Tina eiskalt von sich und sagt: „Ein Idiot ist ein Idiot und bleibt es auch!“ Um 1900 gelten Kinder mit geistigen und körperlichen Behinderungen als Last und sozialer Makel. Auch sonst leben Eltern die zärtliche Liebe zum Nachwuchs damals noch nicht selbstverständlich offen aus.

Die Italienerin Maria Montessori (Jasmine Trinca) denkt schon weiter als die wohlhabende Französin Lili, die Tochter Tina (Rafaelle Sonneville-Caby) ins von Montessori und Guiseppe Montesano (Raffaele Esposito) geführte Bildungsinstitut in Rom abschieben will. Maria fördert dort das Potenzial solcher verschmähter Kinder und setzt dafür auf Zuneigung und kreative Methoden anstatt auf Frontalunterricht, Paukroutinen und Prügelstrafen.

Das wortwörtliche Begreifen des Lernstoffes ermöglicht sie etwa, indem sie den Kleinen mit aus Holz geschnitzten Buchstaben das abstrakte Abc näherbringt. Die reformpädagogischen Ideen der Maria Montessori sind bis heute gefragt, ähnlich den Konzepten des umstrittenen Waldorf-Pädagogen Rudolf Steiner.

Damals eine Sensation!

Die französische Filmemacherin Léa Todorov huldigt Maria Montessori in ihrem gleichnamigen Biopic aber nicht nur als bahnbrechender Pädagogin, sondern auch als Ideal einer modernen Frau in einer von konservativen Männern dominierten Ära, wie der französische Originaltitel „La nouvelle Femme“ – Die neue Frau – verrät.

Léa Todorov erzählt, wie Maria sogar ihren mit Guiseppe Montesano unehelich gezeugten Sohn Mario in die Obhut einer Amme geben muss, um als Unverheiratete weiterarbeiten zu können. Dass Maria als Frau die höhere Schule und ihr Medizinstudium mit Erfolg abgeschlossen hat, ist damals eine Sensation. Obwohl sie gleichberechtigt mit Montesano arbeitet und ihre Pädagogik auf wissenschaftliche Erkenntnisse baut, wird sie vom männlichen Fachkollegium belächelt.

Der Figur Montessoris mit der verbürgten Geschichte ihrer von Konventionen verhinderten Mutterschaft stellt Todorov die fiktive französische Edelkurtisane Lili d’Alengy entgegen, die ihre Tochter ebenfalls verleugnet, um ihren selbstbestimmten Lebensstil bewahren zu können. Wie Maria entzieht sich Lili dem Joch der Ehe und bleibt auf diese Weise autark. Während Maria aber unter dem gesellschaftlich erzwungenen Entzug ihres Sohnes leidet, wehrt sich Lili mit Händen und Füßen gegen die Liebe zu Tina. Erst unter Montessoris Anleitung entdeckt sie die liebenswerte Individualität ihres behinderten Kindes.

Verblüffte Fachleute

Die sozialen Bedingungen dieser Frauenbiografien schildert Todorov zwar thesenhaft zugespitzt, aber glaubwürdig und in elegant fotografierten Bildern. Die Kerninhalte der Montessori-Pädagogik vermittelt sie anschaulich und sichtlich begeistert als freundlich gesinnte Bildungsoffensive zu einer Zeit, in der ein stark auf Hierarchien, Auslese und Status ausgerichtetes Menschenbild vorherrscht. Gemeinsam mit den verblüfften Fachleuten, die Maria zur Demonstration ihrer Erfolge ins Institut lädt, staunt man, wie selbstsicher die intellektuell unterschätzten Kinder Rechen- und Leseaufgaben lösen. Warum Maria Montessori trotz solcher Erfolge inzwischen kritisch gesehen wird, spart Léa Todorov allerdings aus. Montessoris Überlegungen zu Rassentheorien und zum „perfekten Kind“, das sie mithilfe ihrer Methodik formen wollte, spielen für Todorov, die nur die junge Reformerin in den Blick nimmt, keine Rolle. Wer wenig bis nichts über die historische Person weiß, kann sich von der interessanten Biografie, den fortschrittlichen Ideen Montessoris und von deren Durchsetzungskraft beeindrucken lassen.

Schwierige Beziehung zum Sohn

Und obwohl Léa Todorov Mutterschaft und weibliche Berufstätigkeit stolz überhöht im Kontrast zur Wirkung der von ihr als überheblich und feige gezeichneten Männer, bleibt der Kitschfaktor in ihrer Erzählung vergleichsweise gering. Mit dem Wissen um Montessoris zweifelhafte Äußerungen, wie sie von der Autorin Sabine Seichter in einem jüngst erschienenen Sachbuch kritisch reflektiert werden, erscheint Léa Todorovs feministisch beeinflusster Blick auf ihre Heldin jedoch in anderem Licht.

Die unbestrittenen Verdienste der Maria Montessori zu würdigen, ist das eine, deren diskussionswürdige Entwicklung auszusparen, das andere. Immerhin beschreibt die Filmemacherin auf Schrifttafeln zum Schluss den Ausgang von Maria Montessoris schwieriger Beziehung zum entfremdeten Sohn Mario. Sie hätte da auch Montessoris rassistisches Denken anreißen und die bewundernd-verengte Perspektive öffnen können. Angesichts der neu entflammten Debatte bleibt die Frage, warum Léa Todorov in Maria Montessori bloß die gute Pädagogin sehen will.

Maria Montessori. Frankreich, Italien 2023. Regie: Léa Todorov. Mit Jasmine Trinca, Leïla Bekhti, Raffaele Esposito. 100 Minuten. Ohne Altersbeschränkung.