An Henry A. Kissinger scheiden sich die Geister. Kritiker halten ihn für einen skrupellosen Machtpolitiker. Bewunderer sehen in ihm einen genialen Strategen. Im Alter von 100 Jahren ist der ehemalige US-Außenminister nun gestorben.
Der britische „Independent“ nannte Kissinger einmal treffend „das größte Ego in der Geschichte der Diplomatie“. Er lieferte damit eine plausible Erklärung für das unermüdliche Streben des Deutschen mit dem amerikanischen Pass, der für sich einen Platz in den Geschichtsbüchern beanspruchte. Kissinger folgte dem Rat Winston Churchills, nach Möglichkeit als Erster über die eigene Rolle in der Politik zu schreiben. Allein seine Erinnerungen über die Jahre als Sicherheitsberater und Außenminister unter Richard Nixon und Gerald Ford (1969–77) verarbeitete er in drei dicken Bänden.
Am Mittwoch nun ist Kissinger im Alter von 100 Jahren in seinem Haus im US-Bundesstaat Connecticut gestorben.
Ins Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit rückte Kissinger Anfang der 70er Jahre als einer, der Mitverantwortung am Krieg der USA in Vietnam trug. Nicht für dessen Beginn, aber für die Ausweitung des Vernichtungsfeldzuges gegen Zivilisten mit Flächenbombardements und Napalm-Einsatz. Seine Kritiker machen ihn deshalb für Zehntausende getötete Kambodschaner und Tausende US-Soldaten verantwortlich.
Kriegsverbrecher oder nicht?
In dem Krieg, der die Supermacht USA ihre moralische Legitimität kostete, hatte Kissinger im Geheimen Friedensgespräche vorbereitet. 1973 mündeten die Verhandlungen mit dem Nordvietnamesen Le Duc Tho in einen Friedensvertrag, doch der Krieg dauerte noch bis 1975. Beide Unterhändler erhielten für die Bemühungen den Friedensnobelpreis. Kissinger nahm ihn an, Le Duc Tho nicht.
Ob Kissinger ein Kriegsverbrecher ist oder nicht, hat Heerscharen von Juristen und Journalisten beschäftigt. Das Buch „Die Akte Kissinger“ von Christopher Hitchens lieferte die Grundlage des Films „Angeklagt: Henry Kissinger“, der das Vorgehen des Sicherheitsberaters dokumentiert. Ob bei der Unterstützung von Militärputschen in Südamerika, so etwa beim Pinochet-Putsch in Chile 1973 gegen die demokratisch gewählte Regierung Allende, oder der völkerrechtswidrigen Invasion in Osttimor durch Indonesien und erst recht im Falle von Vietnam, Kambodscha und Laos – Kissinger galt stets als Strippenzieher der „schmutzigen Kriege“.
Darüber hinaus lieferte er reichlich Anlässe für Kritik. Sein Verständnis von Realpolitik illustriert eine Tonaufzeichnung aus dem Jahr 1973 im Zusammenhang mit den Repressionen, denen sich Juden in der damaligen UdSSR ausgesetzt sahen. „Selbst wenn sie in der Sowjetunion Juden in die Gaskammern schicken“, sagte der Sohn deutscher Juden, die vor den Nazis geflohen waren, „ist das für Amerika kein Thema. Vielleicht ist es ein humanitäres Thema.“ Als das Zitat 40 Jahre später öffentlich wird, entschuldigt sich Kissinger.
Willy Brandt hielt er für einen „gefährlichen Trottel“
Mehr als delikat ist auch ein anderer Mitschnitt, der ein Gespräch zwischen Kissinger und Richard Nixon aus dem Jahr 1973 festhält. Beide zogen darin über den damaligen deutschen Bundeskanzler Willy Brandt her. Dieser hatte sich gerade einer harmlosen Operation an den Stimmbändern unterzogen. Was Nixon mit der Aussage quittierte, Brandt erfreue sich wohl „guter Gesundheit“. „Leider wird er uns erhalten bleiben, yeah“, pflichtete Kissinger bei, ein „gefährlicher Trottel“. Brandts Entspannungspolitik missfiel Kissinger gründlich. Menschenrechtskategorien und Demokratiefragen stellte er hintan. Ihm ging es ausschließlich um Interessenpolitik, die er als Realpolitik verkaufte.
Der frühere deutsche Minister Egon Bahr (SPD) ging in seiner politischen Bilanz großzügig mit dem früheren US-Außenpolitiker um. „Ohne Kissinger hätte es die Entspannungspolitik nicht gegeben.“ Beide, Bahr wie Kissinger, waren Meister einer Politik, die darauf verzichtete, ideologische Barrieren zwischen den Staaten in den Mittelpunkt zu stellen.
Dass Kissinger zum Außenminister der USA aufstieg, ohne in dem Land geboren zu sein, überraschte den intelligenten und selbstbewussten Kissinger vermutlich selber am meisten.
Kindheit in Fürth, Flucht vor der Nazi-Diktatur
Kissinger kam am 27. Mai 1923 in der fränkischen Provinzstadt Fürth zur Welt. Dort wuchs er mit seinem ein Jahr jüngeren Bruder Walter Bernhard auf. Sein Vater Louis Kissinger unterrichtete Geschichte und Geografie an einem Fürther Gymnasium. Seine Mutter Paula kam aus wohlhabenden Verhältnissen. Den Namen Kissinger hatte die Familie 1817 von der Kurstadt Bad Kissingen angenommen. Henry hieß damals noch Heinz Alfred.
1938 verließen die Kissingers Deutschland. Zahlreiche Verwandte fielen später der Nazi-Diktatur zum Opfer. Henry ging mit seinem Bruder in Manhattan zur Schule und erhielt 1943 die US-Staatsbürgerschaft. Danach diente er in der Army, wo er seine alte Heimat während der Ardennen-Offensive wiedersah. Er blieb bis 1947 als Geheimdienstler in Deutschland und half als Special Agent, mehrere Gestapo-Beamte aufzuspüren.
Zurück in den USA konzentrierte er sich auf seine akademische Laufbahn. Erst 1957 steigt Kissinger als Berater des New Yorker Gouverneurs Nelson Rockefeller in die Politik ein. 1968 ernennt ihn Richard Nixon zum Außen- und Sicherheitsberater. Und Kissinger ist gefordert. Der Stern der USA sinkt zu jener Zeit, nicht zuletzt wegen der Vietnam-Politik. Die Sowjetunion gilt als Aufsteiger. 1973/74 macht sich Kissinger einen Namen als Pendeldiplomat in Nahost. Ihm wird eine maßgebliche Rolle bei den Friedensbemühungen zwischen Israel und den arabischen Staaten zugeschrieben. Seine permanenten Reisen zwischen den Konfliktparteien sind seitdem als Shuttle Diplomacy ein Begriff.
Mit Helmut Schmidt verband Kissinger eine enge Freundschaft
Mit dem Amtsantritt des Demokraten Jimmy Carter 1977 verabschiedet sich der damals 54-Jährige aus der aktiven Politik. Als geschäftstüchtiger Politikberater, Vortragsreisender und Buchautor blieb er aber bis ins hohe Alter aktiv.
Mit Altkanzler Helmut Schmidt verband ihn eine enge Freundschaft. Doch ausgerechnet in seiner Heimat bescherte ihm sein 90. Geburtstag noch einmal ungeliebte Schlagzeilen. Als die Rheinische Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn 2013 eine „Henry-Kissinger-Professur für internationale Beziehungen und Völkerrechtsordnung“ aus Stiftungsgelder erhält, regt sich Widerstand. Grüne und Linke reichen im Bundestag eine kleine Anfrage ein, um ihre Bedenken kundzutun. Erster Inhaber des Lehrstuhls wird der frühere US-Botschafter in Bonn, James D. Bindenagel.
Zu den weniger bekannten Seiten des umstrittenen Politikers mit deutschen Wurzeln gehört seine Süffisanz. Die gab er im kleinen Kreis gelegentlich zu erkennen. Unvergessen bleibt seine Reaktion auf den Bericht des Kardiologen, der ihm mehr Bypässe einsetzen musste als vor der Operation beabsichtigt. „Wenigstens wissen wir jetzt, dass ich ein Herz habe“, reagierte Kissinger vieldeutig.