Für die armenischen Verteidiger war die aserbaidschanische Übermacht zu groß. Foto: dpa/Emrah Gurel

Es war ein kurzer, ungleicher Kampf: Überlegene aserbaidschanische Truppen zwingen die Armenier in Berg-Karabach zur Kapitulation. Die Armenier befürchten einer Massenvertreibung aus ihrer Heimat.

Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev hat nach den heftigen Angriffen seiner Armee auf das von Armeniern bewohnte Gebiet Berg-Karabach den Sieg erklärt. In der eintägigen Operation habe Aserbaidschan seine Herrschaft über das Gebiet im Südkaukasus wiederhergestellt, sagte er am Mittwochabend in einer Fernsehansprache in Baku. Der Einsatz, den er eine Anti-Terror-Operation nannte, sei beendet.

Aliyev sprach von illegal in Karabach stationierten armenischen Truppen, die vernichtet worden seien. „Militärische Ausrüstung wurde zerstört und unbrauchbar gemacht.“ Den Karabach-Armeniern, die eine Vertreibung aus alten Siedlungsgebieten befürchten, versprach Alijev, sie würden bald eine Wende zum Besseren erleben.

Für die armenischen Verteidiger war die aserbaidschanische Übermacht zu groß. Nach Beginn der Angriffe am Dienstag gaben sie am Mittwoch bekannt, einer Feuerpause zugestimmt zu haben - die einer Kapitulation gleichkommt. Denn Baku stellte die Bedingung, dass sie ihre Waffen niederlegen und Kampfpositionen aufgeben. Die Behörden der nicht anerkannten Republik fühlten sich von der Welt im Stich gelassen: „In der aktuellen Situation sind die Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft zur Beendigung des Kriegs und zur Lösung der Situation unzureichend“, erklärten sie.

Bis dahin waren bei den Bombardements armenischen Angaben zufolge mehr als 30 Menschen getötet und über 200 weitere verletzt worden, unter ihnen auch Zivilisten. Aserbaidschans Armee hatte das Gebiet um die Stadt Stepanakert stundenlang mit Artillerie, Raketen und Drohnen angegriffen, um es zu erobern.

Nun ist ihre Zukunft noch ungewisser

Das bereits seit Jahrzehnten zwischen den beiden Ex-Sowjetrepubliken umkämpfte Berg-Karabach liegt zwar auf aserbaidschanischem Staatsgebiet, wird aber mehrheitlich von ethnischen Armeniern bewohnt. Die Schätzungen zufolge rund 100 000 verbliebenen Bewohner der Region waren schon vor den Angriffen in einer verzweifelten Lage, weil Aserbaidschan monatelang die einzige armenische Zufahrtsstraße, den Latschin-Korridor, blockierte. Lebensmittel, Medikamente und Benzin waren knapp.

Nun ist ihre Zukunft noch ungewisser. Aliyev und seine autoritäre Führung sprechen von der „Wiedereingliederung“ Berg-Karabachs. Viele Armenier fürchten eine gewaltsame Rache der Aserbaidschaner, weil sie so lange ausharrten und Widerstand leisteten. Hunderte Menschen versammelten sich am Flugplatz der Hauptstadt Stepanakert in der Hoffnung, mit Hubschraubern ausgeflogen zu werden.

Bereits am Dienstag hatten armenische Journalisten vor Ort Fotos und Videos veröffentlicht, die zeigen, dass - entgegen der Beteuerungen aus Baku - nicht nur militärische Objekte, sondern auch Wohnhäuser getroffen wurden. Familien harrten in Kellern aus, während über ihren Köpfen die Geschosse donnerten.

„Nach neun Monaten des Hungers sind wir nun in einem Bombenschutzkeller und schlafen hier mit Kindern, die gestern noch von Brot träumten und die heute davon träumen, morgen noch aufzuwachen“, schrieb etwa die Reporterin Siranush Sargsyan auf der früher als Twitter bekannten Plattform X. „Ich weiß nicht, ob wir aufwachen werden, aber ich hoffe, ihr werdet uns dafür in Erinnerung behalten, dass wir diesem Genozid mit Würde entgegen getreten sind.“

Die von russischer Seite initiierte Feuerpause trat am Mittwoch um 13.00 Uhr armenischer Zeit (11.00 Uhr MESZ) in Kraft und führte offenbar tatsächlich zu einer Abnahme der Kampfhandlungen. Doch viele Armenier sind trotzdem wütend auf Russland, das eigentlich traditionell als Schutzmacht des christlich-orthodoxen Landes gilt, während das muslimische Aserbaidschan auf die Türkei setzt.

In ihren Augen haben die in der Region stationierten russischen Soldaten die militärisch unterlegenen Armenier im Stich gelassen. Schon vor Ausbruch der jüngsten Eskalation hatten Beobachter gewarnt, das mit Öl- und Gaseinnahmen hochgerüstete Aserbaidschan könnte ausnutzen, dass Russland wegen seines eigenen Angriffskriegs gegen die Ukraine derzeit im Südkaukasus weniger präsent ist.

Armeniens Regierungschef telefonierte am Mittwochabend mit Putin

Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan mahnte, die Russen müssten spätestens nun angesichts des aserbaidschanischen Vormarsches für die Sicherheit der Karabach-Armenier sorgen. Er telefonierte nach Angaben seiner Regierung am Mittwochabend mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Moskau versicherte, die eigenen Soldaten blieben in Karabach stationiert und setzten unter anderem Evakuierungsmaßnahmen fort. Bis Mittwochabend hätten russische Kräfte 3100 Zivilisten in Sicherheit gebracht, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Den Militärangaben nach wurden mehrere in Karabach stationierte russische Soldaten durch Beschuss auf ihr Auto getötet. Der Vorfall habe sich am Mittwoch bei dem Ort Dschanjatag ereignet. Es wurde nicht gesagt, wie viele Angehörige der russischen Friedenstruppe getötet wurden.

Kremlsprecher Dmitri Peskow wies armenische Vorwürfe über russische Untätigkeit zurück. Er erklärte zudem, man beobachte derzeit „de jure Handlungen der Republik Aserbaidschan auf ihrem Staatsgebiet“. Diese Äußerung ist insofern bemerkenswert, als dass Russland nach dem letzten Karabach-Krieg 2020 zugesagt hatte, die damals vereinbarte Waffenruhe in der Region zu überwachen.

Und so richten sich die in Armeniens Hauptstadt Eriwan aufgeflammten Proteste nicht nur gegen die eigene Regierung, von der die Menschen mehr Beistand für ihre Landsleute in Berg-Karabach fordern. Auch die russische Botschaft in Eriwan wurde bereits von wütenden Demonstranten umringt. Zwischenzeitlich war Angaben der russischen Diplomaten zufolge ein normaler Botschaftsbetrieb nicht mehr möglich.