Mercedes-Entwicklungsvorstand Markus Schäfer zieht nach der Tour mit den drei beteiligten Fahrern Bilanz. Foto: /Mercedes-Benz AG

Der EQXX, von dem es bislang nur ein Fahrzeug gibt, wurde entwickelt, um Zukunftstechnologien darzustellen. Bei seiner Jungfernfahrt auf der öffentlichen Straße ging es mit einer Ladung Strom von Stuttgart über die Alpen ans Mittelmeer.

Im Morgengrauen geht es los, bei Nieselregen und drei Grad. Tor 16 vom Sindelfinger Werk öffnet sich, das Fahrzeug mit dem Stern und futuristischem Heck rollt das erste Mal überhaupt auf einer öffentlichen Straße, bricht auf zu einem großen Experiment. Noch vor Sonnenuntergang soll das E-Fahrzeug am Mittelmeer im französischen Cassis, dem malerischen Dorf mit dem Fischerhafen, einfahren. 1000 Kilometer Strecke, ohne die Batterie nachzuladen.

Technologieträger wie der legendäre C 111

Das Fahrzeug ist ein Unikat, vollgestopft mit Zukunftstechnologie. Der EQXX ist nicht irgendein Showcar, wie sie Hersteller für Automessen bauen. Der EQXX ist deutlich mehr, für den Konzern ist er von seiner Bedeutung her nur mit dem legendären C 111 (orangefarbige Kunststoffkarosserie, super-aerodynamisch, Wankelmotor) vergleichbar.

Mit dem EQXX will Entwicklungsvorstand Markus Schäfer zeigen, was die nächste Generation an Kompaktfahrzeugen, die 2024 erstmals vom Band läuft, können muss. Bei Reichweite und Effizienz will Mercedes mit seinen vollelektrischen Autos einen riesigen Sprung an die Weltspitze machen. Seine Ansage an die Entwickler war: Baut mir den sparsamsten Mercedes, den es je gab. Angefangen vom E-Antrieb über Batterie und Bremsen bis zum Design und Software soll das Auto den Standard setzen.

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Vorangegangen war die Neuformation des Konzernvorstands unter Ola Källenius. „Der Anspruch von Mercedes muss sein, an der Spitze der Branche die Transformation zu Elektromobilität und Digitalisierung zu beschreiten. Auf dem Weg dahin markiert der Vision EQXX eine wichtige Zwischenetappe“, sagt Schäfer.

Der EQXX soll alltagstauglich sein. Auf der Autobahn 81 Richtung Schweiz, wo es kein Tempolimit gibt, fährt das Auto mit 140 Stundenkilometern. Außerhalb Deutschlands hält sich der Fahrer an die Vorgaben. Der Tüv überwacht den Versuch, hat die Ladevorrichtung verplombt und fährt mit im Tross über die Alpen.

Abgesehen von den Versuchsbedingungen könnte der Trip eine ganz normale Urlaubsfahrt sein. In der Schweiz gibt es Stau, weil ein Lkw im Tunnel einen Unfall verursacht. Mal regnet es, mal bläst der Wind von vorn. Schon ein Blick ins Display, das sich über die gesamte Fahrzeugbreite erstreckt, macht dem Beifahrer deutlich, dass der EQXX gut unterwegs ist. Die ausgewiesene Effizienz des E-Antriebs pendelt um die 97-Prozent-Marke.

In Rekordzeit entwickelt

Das Auto wurde in Rekordzeit entwickelt. Gerade einmal 18 Monate liegen zwischen dem Vorstandsbeschluss und der Weltpremiere im Januar. Die Mercedes-Entwickler müssen sich ihrer Sache sehr sicher gewesen sein: Als das Fahrzeug virtuelle Weltpremiere hatte und die ersten Fotos um die Welt gingen, war das Auto buchstäblich noch nie auf einer Straße gefahren. Alle Tests bis dahin hatten nur im Labor stattgefunden.

Für die Entwicklung des komplett neuen Antriebsstrangs spannt Mercedes die britische Tochter HPP ein, die für die Formel 1 und die Formel E arbeitet. Die Batterie ist mit nicht einmal 500 Kilogramm ein Fliegengewicht für ein vollelektrisches Auto. Das ganze Fahrzeug bringt 1,755 Tonnen Gewicht auf die Waage – nicht viel mehr als ein Verbrenner in seiner Klasse. Auf Effizienz getrimmt sind in dem Inneren der Mercedes-Batterie keine rechteckigen Module verbaut wie sonst, sondern allein die Zellen. Die Batterie verfügt über eine Spannung von 900 Volt und hat eine Kapazität von knapp 100 Kilowattstunden. Der Wagen liefert eine Leistung ab von 180 Kilowatt, was gut 240 metrischen Pferdestärken entspricht. Ein Entwickler, der den EQXX über die Alpen gefahren hat, sagt: „Er ist kein Rennwagen, aber sehr agil unterwegs.“ Auch das hilft, Ballast abzuwerfen: Es gibt keinen eigenen Kühlkreislauf für die Batterie. Nur eine geschickte Führung der Luftströme sorgt für die richtige Temperatur, selbst bei sommerlichem Wetter.

Entwicklungsvorstand Markus Schäfer sagt im Gespräch mit unserer Zeitung: „Der Vision EQXX ist unser Technologieträger.“ Das Auto werde nicht in Serie gehen. „Allerdings werden wir in wenigen Jahren viele seiner Elemente in Ausprägungen in der Serie wiederfinden.“ Sei es die Chemie aus der Batterie, der eigens entwickelte Elektromotor, die zusätzliche Energiegewinnung aus dem 1,9 Quadratmeter großen Solardach oder die nach Regeln der bionischen Optimierung konstruierten Karosseriebestandteile – all das dürften Blaupausen für die nächste Generation an Kompaktfahrzeugen sein.

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Vielleicht am spektakulärsten ist die Windschlüpfrigkeit. Der CW-Wert liegt unter 0,17. Mercedes hält mit dem EQS und einem CW-Wert von 0,2 den Weltrekord bei Serienautos. 0,17 – dafür mussten die Designer manche Kröte schlucken. Etwa, dass die Spur der Hinterreifen etwas schmaler ist als an der Vorderachse, wodurch die hinteren Räder im Windschatten unterwegs sind. Zudem gibt es hinten auf Stoßstangenhöhe einen Diffusor, der bei Tempo 60 ausfährt und die Reichweite um fünf Prozent erhöht.

Umgerechnet weniger als ein Liter auf 100 Kilometer

Als der EQXX die Südseite der Alpen erreicht, macht sich Erleichterung im Team breit. Der Verbrauch liegt im Schnitt unter neun Kilowattstunden auf 100 Kilometer. Ein BMW i3 ist kaum unter Werten von 13 bis 14 Kilowattstunden zu fahren. Umgerechnet auf die Verbrennerwelt würde es bedeuten: Der EQXX benötigt weniger als einen Liter Kraftstoff auf 100 Kilometer. Kurz nach 19 Uhr kommt der EQXX dann in Cassis an. 1008 Kilometer Fahrt liegt hinter ihm. Die Durchschnittsgeschwindigkeit liegt bei 87 Stundenkilometern. Die Erwartungen sind übertroffen: Die Batterie hat noch immer 15 Prozent ihrer Kapazität. Wenn es nach dem EQXX ging, hätte der Roadtrip über die Alpen also auch 140 Kilometer weiter sein können.

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