Eine knappe Mehrheit der Abgeordneten im israelischen Parlament hat am Sonntag für die neue Regierung gestimmt. Das Links-rechts Bündnis könnte unterschiedlicher nicht sein. Warum Experten glauben, dass es trotzdem klappen könnte.
Jerusalem - Die Abstimmung im israelischen Parlament fiel denkbar knapp aus: 60 Abgeordnete stimmten für die neue Koalition, 59 dagegen. Doch da eine einfache Mehrheit genügt, um eine Regierung ins Amt zu heben, hat Israel seit Sonntagabend einen neuen Ministerpräsidenten: Naftali Bennett, Vorsitzender der rechten Yemina-Partei, 49-jähriger High-Tech-Millionär, einst Verbündeter des bisherigen Regierungschefs Benjamin Netanjahus, nun sein Rivale und Nachfolger.
US-Präsident Joe Biden gratulierte Naftali Bennett und den Mitgliedern seines Kabinetts. „Ich freue mich darauf, mit Ministerpräsident Bennett zusammenzuarbeiten, um alle Aspekte der engen und dauerhaften Beziehung zwischen unseren beiden Nationen zu stärken“, erklärte Biden am Sonntag. Der US-Präsident sicherte der neuen Regierung in der Mitteilung Unterstützung bei der Sicherheit des Landes zu. „Israel hat keinen besseren Freund als die Vereinigten Staaten“, erklärte Biden.
Dass es überhaupt zu einer Koalition ohne Netanjahu kommen könnte, hatte noch vor Wochen kaum jemand erwartet. Stattdessen waren viele Kommentatoren von Neuwahlen ausgegangen, bis Oppositionsführer Yair Lapid Anfang Juni Minuten vor Ablauf der Frist seine unwahrscheinliche Koalition präsentierte: ein Bündnis aus acht Parteien, das die größten Gegensätze der israelischen Gesellschaft in sich vereint – religiös und säkular, links und rechts, jüdisch und arabisch.
Die Abneigung gegen Netanjahu hält die Partner zusammen
Ursprünglich war es in erster Linie die gemeinsame Ablehnung gegen Netanjahu, die die ungleichen Partner an den Verhandlungstisch trieb. Während ihrer Ansprachen im Vorfeld der Abstimmung demonstrierten die Vorsitzenden der acht Parteien jedoch Einigkeit. „Ich bin stolz, dass ich (in einer Koalition) sitze mit Menschen, die sehr unterschiedliche Meinungen haben“, sagte Bennett. Nach zwei Jahren im Amt soll Lapid, bis dahin Außenminister, ihn ablösen.
Vor allem für jüngere Israelis dürfte Netanjahu auf der Oppositionsbank ein ungewohntes Bild bieten, schließlich war er seit 2009 durchgehend im Amt. Das Ende seiner Ära auszurufen, wie manche es bereits getan haben, halten Analysten jedoch für voreilig. „Netanjahu wird ein aggressiver Oppositionsführer sein“, schätzt die Politikwissenschaftlerin Gayil Talshir. Er werde gewiss alles daran setzen, die neue Koalition zu Fall zu bringen – um bei Neuwahlen sein Amt zurückzuerobern.
Auch Yohanan Plesner, Präsident des Israel Democracy Instituts, eines liberalen Think-Tanks, rechnet nicht mit Netanjahus baldigem Rückzug, nicht zuletzt, weil dieser sich wegen Korruptionsverdacht vor Gericht verantworten muss. „Seine Motivation, Oppositionsführer zu bleiben, hängt größtenteils mit seinem Gerichtsprozess zusammen“, sagt Plesner. Netanjahu glaube, diese Stellung „verleiht ihm Einfluss gegenüber den Richtern und dem Staatsanwalt“.
Drängende Aufgabe ist die Verabschiedung eines Staatshaushalts
Zu den drängendsten Aufgaben, die das neue Bündnis bewältigen muss, gehört die Verabschiedung eines Staatshaushalts: Seit Jahren operiert das Land ohne Budget, als Grundlage dient notgedrungen der letzte Haushalt aus dem Jahr 2018. Die letzte Regierung unter Führung Netanjahus war Ende vergangenen Jahres am Unvermögen der Partner zerbrochen, sich auf einen neuen Haushalt zu einigen.
Wenngleich die allgemeinen Erwartungen an das neue Bündnis niedrig sind, enthält die Koalitionsvereinbarung ehrgeizige Ziele: So will die Regierung das Monopol der ultraorthodoxen Rabbiner über religiöse Angelegenheiten aufweichen, anderen Strömungen des Judentums mehr Raum geben und womöglich gar öffentliche Verkehrsmittel am Schabbat, dem jüdischen Ruhetag, erlauben.
Hält Pragmatismus die ungleichen Partner zusammen?
Des weiteren sieht die Einigung mehr Investitionen in den arabischen Sektor vor, die Integration von mehr Ultraorthodoxen in Armee und Arbeitsmarkt und die Stärkung abgelegener Regionen wie Galiläa und der Negevwüste. Zum Konflikt mit den Palästinensern bezieht das Bündnis keine Stellung; zu unterschiedlich sind die Positionen der Partner.
Viele Kommentatoren sagen der Koalition keine lange Lebensdauer voraus. Dabei haben alle Beteiligten ein Interesse am Fortbestand der Regierung, sagt der Politikwissenschaftler Guy Ben-Pora von der Ben-Gurion-Universität. Denn im Falle von Neuwahlen würden wohl insbesondere die rechten Parteien Yemina und Neue Hoffnung von Teilen ihrer Wählerbasis für das Bündnis mit Arabern und Linken bestraft. „Diese Regierung zu einem frühen Zeitpunkt zu verlassen, käme politischem Selbstmord gleich“, meint Ben-Pora. „Es könnte also Pragmatismus sein, der diese Regierung zusammenhält.“