Kristin Pudenz gilt als Medaillenhoffnung in Budapest. Foto: imago//ilo Wiedensohler

Die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Ungarn (19. bis 27. August) stehen in den Startlöchern. Ministerpräsident Viktor Orbán hat viel in den Austragungsort investiert – und noch sehr viel mehr vor.

Es hat schon was, in diesen Tagen im prunkvollen Budapester Café New York zu sitzen, unter Kristallleuchtern zwischen marmorierten Säulen, um bei Kaffeehausmusik über die bevorstehende Leichtathletik-WM im fünf Kilometer entfernten neuen Stadion Nemzeti Atlétikai Központ nachzudenken.

Das Stadion steht direkt an der Donau, ist ein Schmuckkästchen. 310 Millionen Euro hat die ungarische Regierung ausgegeben. Aber Ministerpräsident Viktor Orbán hat noch Größeres vor. „Orbán möchte die Olympischen Spiele nach Budapest holen“, sagt der freie Sportjournalist Botond Csepregi. Einem geplanten Referendum in der ungarischen Bevölkerung, das gegen millionenteure Stadionbauten bei gleichzeitig maroden strukturellen Bedingungen im Bereich von Verkehr, Bildung und Gesundheitswesen gerichtet war, kam Orbán mit dem Rückzug der Bewerbung für die Spiele 2024 zuvor. Der Ministerpräsident gilt als Querkopf: Er möchte Ungarn ohne die EU lenken, beansprucht aber das Geld aus der Union. „Wir verstehen vieles nicht mehr“, sagt eine ungarische Lehrerin aus dem Lager der Liberalen.

Warum Orbán der Sport so wichtig ist

Orbán ist ein einflussreicher Drahtzieher auch im Sport. Warum investiert er so viel Geld in den Bereich? „Er ist sportbesessen, fest überzeugt, dass der Sport Gemeinschaftsgefühl und Nationalstolz erzeugt“, sagt der regierungskritische Journalist János Kele. Mit seiner nationalkonservativen, rechtspopulistischen Partei Fidesz wolle Orbán Ungarn als internationalen Ort des Sports etablieren.

Zuletzt haben in Budapest eine Reihe Großereignisse stattgefunden: Champions-League-Spiele im Fußball während Corona, Weltcup im Fechten, Olympia-Qualifikationsturnier der Ringer, die Handball-EM.

Und jetzt die Leichtathletik-WM als propagandistisches Mittel. Tamas Kiss (66), der 1992 als Trainer aus Nyíregyháza nach Stuttgart kam und seitdem hier als Bundesstützpunkt-Trainer arbeitet, kennt die ungarische Leichtathletik im Detail. „Ungarn hatte immer schon außergewöhnliche Werfer und ist vor allem im Hammerwerfen sehr erfolgreich gewesen“, sagt Kiss, der mit Marie-Laurence Jungfleisch und Fabian Heinle bei der Heim-EM 2018 in Berlin zwei Medaillen gewann und auch mit ungarischen Athleten internationale Medaillen holte.

Doping schadete dem guten Ruf der ungarischen Sportler

Sechs Hammerwurf-Olympiasieger kommen aus Ungarn mit insgesamt acht olympischen Medaillen. Tamas Kiss weiß aber auch um die besondere Doping-Geschichte der Diskus- und Hammerwerfer. Adrián Annus und Róbert Fazekas hatten sich unter anderem mit der kreativen „ungarischen Methode, der Gießmaschine“ Doping-Sperren eingehandelt. Sie lieferten aus einer versteckten Blase sauberen Fremd-Urin und legten so die Kontrolleure herein. Krisztián Pars, Olympiasieger 2012, wurde nach einer positiven Kokainprobe gesperrt. „Dies hat dem Image der ungarischen Leichtathletik sehr geschadet“, sagt Tamas Kiss.

Er kennt die gute Stadioninfrastruktur in seinem Heimatland, unter anderem mit allein sechs Bahnen in Budapest, Györ, Tatabánya, Pécs, Szolnok und Szeged. „Natürlich versucht Orbán, aus dem Sport Wählerstimmen zu gewinnen“, sagt Kiss. Ein Großteil der 55 Prozent der Stimmen kommt aber aus dem Bereich der Rentner und alten Menschen und von jenseits der Grenzen. Die ungarische Gesellschaft ist längst gespalten.

Die Leichtathletik-Begeisterung sei groß, deshalb erwarte er ein volles Stadion, nicht wie im Vorjahr in Eugene mit nicht ausverkauften Rängen, sondern eine großartige WM, sagt Kiss.

Die Deutschen müssen auf einige Topstars verzichten

Die Rolle der deutschen Athleten ist eher bescheiden. Der Enttäuschung von Eugene 2022 mit nur zwei WM-Medaillen durch Malaika Mihambo (Gold) und die 4x100-Meter-Staffel der Frauen (Bronze) folgten 16 Medaillen bei der EM im August vergangenen Jahres in München, als Gina Lückenkemper, Julian Weber, Konstanze Klosterhalfen, Richard Ringer und Niklas Kaul Gold holten und mit insgesamt mehr als 300 000 Zuschauern im Olympiastadion für ein Sommermärchen sorgten. Was ist dies im Weltmaßstab wert?

„Wir wollten natürlich erfolgreicher sein als in Eugene, die Verletzungen machen uns aber einen Strich durch die Rechnung“, sagt DLV-Präsident Jürgen Kessing eher pessimistisch. Die Verletztenliste im DLV ist lang: Malaika Mihambo, Alexandra Burghardt, Lisa Mayer, Bo Kanda Lita Baehre, Johannes Vetter, Hanna Klein, Lea Meyer und zuletzt Konstanze Klosterhalfen haben abgesagt.

Deutsche Hoffnungen

Medaillenkandidaten
Als Zweiter der Weltrangliste ist Speerwerfer Julian Weber (Mainz) der große Hoffnungsträger, Diskuswerferin Kristin Pudenz (Potsdam) ist als Olympia- und EM-Zweite für eine Medaille gut. Die beiden Zehnkämpfer Niklas Kaul (Mainz) und Youngster Leo Neugebauer (Leinfelden) sind als Europameister und Weltjahresbester Medaillenhoffnungen. Für sonst übliche Überraschungsmedaillen bleibt wenig Raum.

Internationale WM-Stars
Sprintstar Noah Lyles (USA), Stabhochsprung-Überflieger Armand Duplantis (Schweden), Hürden-Ass Femke Bol (Niederlande), Sprinterin Shericka Jackson (Jamaika) und die überragende kenianische Läuferin Faith Kipyegon, die in diesem Jahr innerhalb von sieben Wochen gleich drei Weltrekorde über 1500, 3000 Meter und die Meile gelaufen ist, könnten der WM ihren Glanz verleihen.