Die Kathedrale Sagrada Familia in Barcelona: 2019 kamen 4,27 Millionen Menschen – mehr als zu jeder anderen spanischen Sehenswürdigkeit. Foto: /Funke Foto Services

An der Sagrada Familia in Barcelona wird seit mehr als 140 Jahren gebaut. Bald ist sie fertig. Die Weihe erfolgt am 12. November 2023 – fast ein Jahrhundert nach dem tragischen Tod von Baumeister Antoni Gaudí.

Die Sagrada Familia ist eine Kirche, vor allem aber ein Phänomen. „Eines der hässlichsten Gebäude der Welt“, fand George Orwell (1903–1950), der nichts dagegen gehabt hätte, wenn die kirchenstürmenden Anarchisten den Bau dem Erdboden gleichgemacht hätten. Sie steht aber noch und wächst und gedeiht und bekommt Besucher ohne Ende. 2019 kamen 4,27 Millionen Menschen – mehr als zu jeder anderen spanischen Sehenswürdigkeit.

Vor zwölf Jahren, nach 129 Jahren Bauzeit, wagte der damalige Präsident des Kirchenpatronats, Joan Rigol, zum ersten Mal, einen Zeitraum für die Fertigstellung der Sagrada Familia zu benennen: zwischen 2026 und 2028. Dann kam die Coronapandemie und brachte den Zeitplan ins Wanken. Die Kirche schloss zwischen März und Juli 2020 und dann noch einmal zwischen Oktober 2020 und Mai 2021. Nach den 4,27 Millionen Besuchern im Vor-Coronajahr waren es im ersten Coronajahr noch 675 000, weniger als ein Sechstel.

172,5 Meter: Sagrada Familia wird höher als Ulmer Münster

Bemerkenswert an dieser letzten Zahl ist, dass sie die Besucherzahl von 1992 – 658 000 – übertrifft, dem Olympiajahr, als Barcelona die Welt zu Besuch hatte. Das Massenphänomen Sagrada Familia ist nicht so alt, wie man denken könnte, wie auch das Gesamtphänomen Barcelona als eines der beliebtesten Reiseziele Europas erst nach jenen Olympischen Spielen 1992 seinen Anfang nahm.

Heute, gut dreißig Jahre später, ist Barcelona kaum wiederzuerkennen und die Sagrada Familia noch weniger. Von den 18 geplanten Türmen sind mittlerweile, trotz Corona-Unterbrechung, 17 fertiggestellt. Die letzten beiden, den Evangelisten Matthäus und Johannes gewidmet, erhielten Ende September ihre krönenden Skulpturen aufgesetzt. Dieser Tage werden die sie umgebenden Gerüste abgebaut, für den 12. November ist ihre Weihe vorgesehen. Ein einziger Turm muss nun noch heranwachsen, der alle anderen überragende Jesusturm. 172,5 Meter soll er bis zur Kreuzspitze messen, elf Meter mehr als der 1890 vollendete Kirchturm des Ulmer Münsters, den er als höchsten Kirchturm der Welt ablösen wird.

Letzter Turm der Sagrada Familia steht 2026

Wenn keine neue Epidemie oder andere Katastrophen dazwischenkommen, dürfte der Jesusturm in drei Jahren fertig sein, 2026. Damit ist die Kirche noch nicht fertig, aber doch ihre Silhouette (und damit auch die neue Skyline Barcelonas). Was dann noch im Inneren und Äußeren der Basilika hinzukommt, wird den Gesamteindruck nicht mehr wesentlich verändern. Die fast Vollendete wird in den Augen eines unbefangenen Besuchers eine Vollendete sein. Eine Baustelle wird sie bleiben, wie alle Monumentalbauten. Gerade wird die noch zu Gaudís Zeiten fertiggestellte Fachada del Nacimiento – die Geburtsfassade – restauriert, wie es nach einem Jahrhundert Wind und Wetter unvermeidlich ist.

Spanien ist ein Land bezaubernder Kathedralen, der von Burgos, der von Santiago de Compostela, der von Sevilla, der von Cádiz, der von Granada, der von Palma oder denen von Roda de Isábena (einem 47-Einwohner-Dorf in den Vorpyrenäen) oder El Burgo de Osma (einem kastilischen 5000-Einwohner-Städtchen). Aber keine hat diese massenmagnetische Wirkung der Sagrada Familia, einer einfachen Votivkirche zur Verehrung der Heiligen Familie, erbaut ganz aus Spenden-, Erbschafts- und schließlich Eintrittsgeldern, die endlich, ihres Erfolges wegen, im Jahr 2010 vom Papst Benedikt XVI. zur Basilika erklärt wurde, was ein Ehrentitel ist, nicht mehr. „Eine wunderbare Synthese aus Technik, Kunst und Glauben“, nannte Benedikt den Bau. Vor allem aber ist er der wahrgewordene Traum seines Architekten, Antoni Gaudís (1852–1926).

Sagrada Familia im Geist von Antoni Gaudí

Gelegentlich reibt sich der eine oder andere Architekt an der Sagrada Familia. George Orwell, der Schriftsteller war kein Architekt, nahm sich heraus, das ganze Werk in Bausch und Bogen zu verwerfen, Gaudís Architekturkollegen ziehen es vor, den Weiterbau nach Gaudís Tod zu kritisieren. Die verantwortlichen Weiterbauer sehen das anders. „Wir empfinden uns als Mitarbeiter Gaudís“, sagt der derzeitige Chefarchitekt Jordi Faulí. „Alle haben wir den Anspruch gehabt, die Ideen Gaudís weiterzuführen.“

Der tiefgläubige Gaudí starb 1926 in Barcelona unter den Rädern einer Straßenbahn. Zehn Jahre später zündeten Anarchisten zwar nicht seine Kirche, aber seine Werkstatt an, schändeten das Grab des Kirchengründers Josep Maria Bocabella und ermordeten später einige der dort Beschäftigten, darunter den ersten Kaplan der Sagrada Familia, Gil Parés, der zehn Jahre zuvor den Leichnam Gaudís nach dessen Straßenbahnunfall identifiziert hatte. Im Feuer der Werkstatt am 20. oder 21. Juli 1936, zum Beginn des Spanischen Bürgerkriegs, gingen wertvolle Pläne für den Weiterbau verloren, aber andere blieben erhalten. An denen haben sich Gaudís Nachfolger bis heute orientiert. Wahr ist, dass sie Gaudís Ideen zu konkretisieren und damit zu interpretieren hatten. Seinem Geist sind sie treu geblieben.