Sieht sich gerade ein übles Castingvideo an, das ihr zugespielt wurde: Die Reporterin Kira Gantner und ihr Team haben für die Doku drei Jahre recherchiert. Foto: NDR

Sexuelle Übergriffe, Gewalt, Drohungen – Hinter den Kulissen spielen sich Dramen ab, die es bislang nur äußert selten ans Licht der Öffentlichkeit schaffen. Das zu ändern haben sich die Protagonisten und Protagonistinnen und die Macherinnen einer neuen ARD-Doku vorgenommen.

Aus Angst würden die meisten Betroffenen in der Theater- und Filmszene über Vorfälle schweigen. Die Angst nicht mehr besetzt oder gebucht zu werden, die Angst als schwierig zu gelten, die Angst, dass einem nicht geglaubt wird. Einige Szenen bleiben in der 60-minütigen ARD-Doku „Gegen das Schweigen – Machtmissbrauch bei Theater und Film“ daher anonym. Doch ohne Namen von Beschuldigten und Opfern oder ohne Absicherung über die Vorwürfe geht der Film von Kira Gantner und Zita Zengerling nicht in den Kampf um Aufdeckung und Veränderung. Es scheint ein Kampf gegen ein System des Dichthaltens zu sein.

Auch Männer erheben Vorwürfe

Es geht konkret um #metoo, sexuelle Übergriffe, Grenzüberschreitungen, körperliche und verbale Gewalt, Drohungen und ein Klima des Wegschauens, der Ohnmacht, des Duldens, Tolerierens, das die Interviewten an deutschen und österreichischen Film- und Theaterproduktionen erlebt haben. Die Macherinnen der Doku haben laut eigener Aussage mit mehr als 200 Personen dazu gesprochen, haben sich 70 eidesstattliche Versicherungen geben lassen und 40 Personen zum Interview getroffen. „Alleine an die Öffentlichkeit zu gehen, würde sich kaum jemand trauen“, so die Reporterin Kira Gantner, die durch den Film führt und viele Einblicke in die rund dreijährige journalistische Arbeit ihres Teams gibt.

Vor der Kamera sind etwa Darstellende wie Luna Jordan, Verena Altenberger, Ada Labahn, Nikolaus Firmkranz oder Werner Wultsch zu sehen. Nicht nur Frauen erheben Vorwürfe. Dem Film geht es nicht darum, einzelne mutmaßliche Täter öffentlich zu machen, Namen werden dennoch genannt.

Anschuldigungen betreffen etwa den hierzulande prominenten und erfolgreichen Schauspieler und Regisseur Kida Khodr Ramadan („4 Blocks“, „Asbest“, „Testo“). Aggressives Verhalten, Rücksichtslosigkeiten und Beschimpfungen Ramadans gegenüber Menschen am Set der Serie „4 Blocks“ seien Alltag gewesen. „Menschen haben hinter der Kamera regelmäßig geweint“, sagt eine anonymisierte Person, die hinter der Kamera gearbeitet hat.

Machtgefälle in der Branche begünstigt ein System von Gewalt und Schweigen

Es ist die gleiche Angst und Ohnmacht, die auch vor allem Frauen zu Beginn ihrer Schauspielkarriere dazu bringt, etwa zu Castings unter vier Augen in privaten Räumlichkeiten von Regisseuren zu gehen. Ein Machtgefälle das offenbar ausgenutzt wird. Die österreichische Schauspielerin Sarah Scharl berichtet, dass ihr gegenüber zwecks anstehenden Vertragsverlängerung geäußert worden sei: „Dann blas’ mir einen.“ Die Schauspielerin Isabell Polak erzählt von einem Vorfall zu Beginn ihres Arbeitslebens von einem bis in die Nacht dauernden Casting in einer Privatwohnung, an dessen Ende der Regisseur ihr die Übernachtung in seiner Wohnung anbot, was sie ablehnte. Gewalttätig und übergriffig schildern mehrere Schauspielende die Zusammenarbeit mit dem österreichischen Theatermacher Paulus Manker. Der Schauspieler Nikolaus Firmkranz berichtet von einer Ohrfeige mitten auf der Bühne, die nicht Teil der Inszenierung war. Ada Labahn von einem Fußtritt des Regisseurs in ihren Bauch während des Stücks. Sie habe sich damals sehr gewünscht, dass jemand aus dem Publikum aufgestanden wäre und eingeschritten wäre oder sie zumindest danach gefragt hätte, wie es ihr ginge. Ein Einspieler zeigt die junge deutsche Schauspieler Luna Jordan, die bei ihrer Dankesrede zum Österreichischen Filmpreis 2022 sagt: „Vor vier Wochen bin ich zum vierten Mal Opfer von sexualisierter Gewalt am Arbeitsplatz geworden und ich bin nicht die einzige.“

Der Film öffnet den Blick hin zur Verantwortung. Wie Labahn hätten sich viele der anderen Interviewten gewünscht, dass sich jemand einmischen würde, dass vor allem Produktionsfirmen genauer hinschauten und mehr Verantwortung trügen. Diese große Abhängigkeit und das Machtgefälle in der Branche begünstigen ein System von Gewalt, Grenzüberschreitungen und Schweigen, so das Fazit.

Ramadan hat sich zwar für Fehlverhalten bei der Arbeit bereits entschuldigt, doch es kam erneut zu Vorfällen bei weiteren Produktionen – die von der ARD Degeto in Auftrag gegeben wurden. Auch vor dem eigenen Arbeitgeber macht die Doku keinen Halt.

Nach diesen erneuten Vorfällen habe allerdings die Degeto Deeskalationsmaßnahmen und betreuende Mitarbeitende an den Sets eingeführt, sodass weitere Vorkommnisse bisher ausblieben.

Dennoch. Der Einblick in die Branche ist erschreckend. Änderungen und Schutzmaßnahmen in den Schauspielberufen scheinen dringend überfällig.

Gegen das Schweigen - Machtmissbrauch bei Theater und Film, ARD Mediathek