Der Unruheherd Boris Palmer, OB in Tübingen, hat bei den Grünen mal wieder eine Debatte angestoßen. Foto: dpa/Marijan Murat

Braucht es eine Wende in der Migrationspolitik? Eine Gruppe von Grünen erregt mit einem entsprechenden Vorstoß Aufsehen in und außerhalb der Partei. Ein Experte hat einen eindeutigen Rat für die Grünen.

Eine Gruppe von Grünen, die sich selbst als Realpolitiker sehen, fordert einen neuen Kurs in der Migrationspolitik. Mit Sätzen, die Aufsehen erregen – und die geeignet sind, Streit in der Partei auszulösen.

Es fehle ein „Konzept für eine gelungene Integration oder die konsequente Rückführung von Geflüchteten in ihre Heimat, sobald sich dies verantworten lässt oder sie selbst es wollen“, heißt es zum Beispiel in dem Memorandum. „Die Migrantinnen und Migranten wissen nicht, was von ihnen erwartet wird, und machen sich mit falschen Hoffnungen auf den weiten Weg.“ Es sei auch in Deutschland ein Rechtsruck zu befürchten, falls Bürger weiter ihr Sicherheitsgefühl einbüßten.

Nouripour spricht von klarer Position

Zu den Unterzeichnern gehören der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, der frühere Bundestagsfraktionschef Rezzo Schlauch und die ehemalige Europaparlamentarierin Rebecca Harms. Die Gruppe nennt sich Vert Realos – „vert“ heißt im Französischen „grün“. Mit dem Papier bringt sie die Parteiführung in die Bredouille.

Ist ein Realitätscheck nötig?

Grünen-Chef Omid Nouripour bemüht sich bei der Pressekonferenz nach der Vorstandssitzung am Montag in Berlin, die Diskussion möglichst nicht zu befeuern. „Wir haben eine klare Position, die heißt: Humanität und Ordnung“, sagt er. Dass es Debattenbeiträge jeder Art gebe, sei vollkommen normal. Das Gebot der Stunde sei, den Kommunen bei der Bewältigung der Herausforderungen durch die hohe Zahl von Geflüchteten möglichst gut zu helfen. Doch ist es damit schon erledigt? Oder steht die Partei in Regierungszeiten einmal mehr vor der Aufgabe, sich auf einem wichtigen Politikfeld einem Realitätscheck zu unterziehen – und womöglich eine Kehrtwende hinzulegen?

Die Grünen mussten in den vergangenen Monaten schwierige Entscheidungen treffen. Vizekanzler Robert Habeck hat in Katar fast schon untertänig um Gaslieferungen nach Deutschland geworben. Die Grünen in der Bundesregierung haben das Kanzler-Machtwort akzeptiert, nach dem die verbliebenen drei Atomkraftwerke zumindest etwas länger als geplant am Netz blieben. Vermutlich haben sie das Machtwort von Olaf Scholz sogar erbeten, um der Parteibasis sagen zu können, man habe keine Wahl mehr gehabt.

Die großen Veränderungen bei den Grünen

Ulrich von Alemann, emeritierter Politikprofessor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, sagte unserer Zeitung mit Blick auf die Ampelregierung im Bund: „Die jetzige Regierungsbeteiligung verändert die Grünen mehr als diejenige in den Jahren von Rot-Grün unter Gerhard Schröder.“ Das liege an den historischen Herausforderungen. „Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass die Grünen einem Sondervermögen für die Bundeswehr zustimmen würden und die SPD bei der Frage von Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet sogar antreiben würden?“

Zu alldem kommt auch noch der Kampf um das Kohledorf Lützerath hinzu, bei dem sich die Klimabewegung von den Grünen im Stich gelassen fühlte. Die Partei hatte sich auf den Kompromiss eingelassen, dass die Siedlung weichen darf – im Gegenzug für einen früheren Ausstieg aus der Braunkohle im Rheinischen Revier.

Auch das Thema Migration und Flüchtlinge ist ein schwieriges für die Partei. In der Partei hat man registriert, dass die Berliner Grünen es bei der Abgeordnetenhauswahl zwar auf 18 Prozent geschafft haben – aber nur auf Platz 3, weit hinter Wahlsieger CDU, der die Integrationsfrage in den Mittelpunkt gerückt hat, nachdem in der Silvesternacht Polizisten und Feuerwehrleute mit Böllern angegriffen worden waren – vielfach von Menschen mit Migrationshintergrund. Politikwissenschaftler von Alemann sagte dennoch: „Ich kann den Grünen nur davon abraten, ihren Kurs in der Migrationspolitik deutlich und schlagartig zu verschärfen.“ Er glaubt: „Das wäre ein zu großer Spagat für die Partei.“ Die Grünen seien eine Partei der linken Mitte, die pragmatisches Handeln in der Regierungsverantwortung gelernt habe. Es ergebe für sie keinen Sinn, in der Migrationspolitik mit Union oder FDP zu konkurrieren. „Die Grünen sind nicht allein auf der Welt – sie können nicht einen Platz im Parteienspektrum besetzen, der schon vergeben ist.“

Es geht um den Kern der Partei

Von Alemann betonte: „Es gehört zum Identitätskern der Grünen, dass sie eine Bürger- und Menschenrechtspartei sind. Diesen Kern muss sie pflegen.“ Sonst habe die Partei nach innen Probleme, stoße aber auch einen Teil ihrer potenziellen Wählerschaft ab. Das würden die Verfasser des Memorandums verkennen, so der Politologe. „Das ist ähnlich wichtig wie die Tatsache, dass die Grünen bei der Frage des Weiterlaufens von Atomkraftwerken nicht endlos flexibel sein können.“