200 Trauernde stehen während einer stillen Gedenkveranstaltung rund um Blumen und Kerzen, die vor einer Schule liegen. Foto: Philipp von Ditfurth/dpa/Philipp von Ditfurth

Wegen der Tötung eines Mitschülers in Offenburg sitzt ein 15-Jähriger in Untersuchungshaft. Doch auch gegen die Eltern läuft mittlerweile ein Ermittlungsverfahren.

Von der nahen Realschule tönen Pausenhofgeräusche. Fröhliche Kinderrufe, jugendliches Palavern. Nebenan im Hornisgrindesaal im obersten Stockwerk des Offenburger Polizeipräsidiums steht Polizeipräsident Jürgen Rieger mehreren Kameras und zwei Dutzend Journalisten gegenüber. Er spricht vom verständlicherweise großen Informationsbedürfnis der Bevölkerung und von neuen Erkenntnissen, die nun vorlägen. Und dann sagt er irgendwann einen Satz, der unpassend klingen mag in Anbetracht eines toten Schülers, vieler traumatisierter Jugendlicher, einer verzweifelten Familie und einer verunsicherten Stadtgesellschaft, der aber wohl doch berechtigt ist: „Wir hatten Glück.“

Er hatte 50 Schuss Munition

Hätte am vergangenen Donnerstag in der Offenburger Waldbachschule noch Schlimmeres passieren können? Nach dem, was Rieger zusammen mit weiteren Vertretern von Polizei und Staatsanwaltschaft an diesem Tag an harten Fakten berichtet, ist das nicht ausgeschlossen. Demnach wurden bei dem 15-jährigen Tatverdächtigen 50 Schuss Munition gefunden. In der Schule, einer sonderpädagogischen Einrichtung, soll er mindestens dreimal geschossen haben. Zwei Schüsse feuerte er demnach direkt seinem 15-jährigen Mitschüler in den Hinterkopf.

Noch im Klassenzimmer soll er versucht haben, einen selbst gebauten Molotowcocktail zu entzünden. Dies misslang. Welche Gefahr von dem Brandsatz ausging, müsse noch kriminaltechnisch untersucht werden, sagt der Chef der Kriminalpolizeidirektion, Raoul Hackenjos. Und auch dies bestätigt Hackenjos: Beim Tatverdächtigen seien handschriftliche Aufzeichnungen mit Namen und skizzenhaften Plänen gefunden worden.

War es Eifersucht? Fühlte sich der 15-jährige Tatverdächtige als Mobbingopfer? Ermittlungsverfahren gegen jugendliche Tatverdächtige folgen besonderen Regeln. „Die Informationspolitik unterliegt strengen Beschränkungen“, sagt die Leitende Oberstaatsanwältin Iris Janke. Selbst ein etwaiger Prozess wird später unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Und so äußert sich Janke auch jetzt zur Motivlage „nur allgemein“, wie sie betont: Bei einem jugendlichen Tatverdächtigen, „der nie durch Aggressionsdelikte aufgefallen ist, muss von einem erheblichen Aggressionspotenzial und einer inneren psychischen Störung ausgegangen werden“, sagt sie. Ob sich der Jugendliche in psychiatrischer Behandlung befand, bleibt offen. Auch, ob der Tatverdächtige auf Instagram eine Bestrafungsaktion androhte, wird nicht kommentiert. Nur so viel: Es sei eine Vielzahl an digitalen Spuren gesichert worden. Und es liefen Ermittlungen, ob es Mitwisser vor der Tat gegeben habe.

Molotow-Anschlag misslingt

Gesichert ist allerdings, dass der Jugendliche bereits am Mittwoch für den Tattag krankgemeldet worden war. Am Donnerstag soll er dann gegen 12 Uhr in das Klassenzimmer gegangen sein. Im Beisein von neun weiteren Schülern und zwei Lehrerinnen habe er das Feuer eröffnet, mit einer italienischen Weltkriegswaffe, einer Beretta, die früher auch in James-Bond-Filmen zum Einsatz kam. Nach dem gescheiterten Molotow-Anschlag habe er das Zimmer verlassen. Eine Lehrerin habe die Tür verschlossen, er habe dann noch einmal dagegen gefeuert. Im Anschluss habe der Täter auf dem Gang eine weitere Lehrerin auf den Kopf geschlagen und verletzt. Ob weitere Schüsse fielen, müsse noch ermittelt werden. Bei der Flucht durch das Treppenhaus soll der Jugendliche den Brandsatz dann nach der Rektorin, die ihm dort entgegenkam, geworfen haben.

Der Notruf ging um 12 Uhr im Polizeipräsidium ein. Wenige Minuten später seien die ersten Beamten eingetroffen. „Das war kein Spezialeinsatzkommando, das waren normale Streifenpolizisten“, betont Rieger, der den Einsatz selbst leitete. Die veränderte Einsatztaktik ist eine Lehre aus dem Amoklauf an einer Schule in Erfurt, als zu lange auf die entsprechende Verstärkung gewartet werden musste. Die Beamten hätten dafür Einsatzkleidung angelegt, das Risiko sei gleichwohl hoch.

Irakischer Vater nimmt ihm Waffe ab

Allerdings war der Jugendliche inzwischen durch einen Vater, der einen Termin in der Schule hatte, entwaffnet worden. „Er hat ihn in einer besonnenen Art angesprochen und alles richtig gemacht. Aber es gibt keine Garantie, dass das beim nächsten Mal wieder klappt“, sagt Rieger, der in diesem Zusammenhang auch Spekulationen im Internet anspricht. Da sei über den Migrationshintergrund des Tatverdächtigen spekuliert worden. „Tatsächlich war es umgekehrt: Der Tatverdächtige ist Deutscher, der Mann, der ihn entwaffnet hat, ist Iraker.“

Viel spricht dafür, dass sich auch die Eltern des 15-Jährigen vor Gericht verantworten müssen. Die Pistole hatte der Tatverdächtige nach den bisherigen Erkenntnissen von zu Hause mitgebracht. Die Staatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren wegen Verstößen gegen das Waffengesetz ein. „Beide Eltern haben keine Berechtigung zum Waffenbesitz“, sagt der ermittelnde Oberstaatsanwalt Martin Seifert. Und auch eine Verletzung der Sorgepflicht käme in Betracht. An der benachbarten Realschule läuft derweil wieder der Unterricht.