Diese gerade mal 50 Zentimeter lange Schiffskanone stammt aus dem frühen 14. Jahrhundert und wurde 2001 am Meeresgrund vor der Küste Westschwedens nahe der Insel Marstrand entdeckt. Foto: © Bo Niklasson/Bohusläns Museum

Seit wann werden Kanonen auf Schiffen eingesetzt? Die Quellenlage ist genauso dürftig wie die historischen Funde. 2001 wurde vor Göteborg ein rätselhaftes Metallteil aus der Ostsee geborgen. Wie Forscher erst jetzt feststellten, handelt es sich um die älteste Schiffskanone Europas. Geschichte eines archäologischen Krimis.

Es ist das Jahr 2001, fünf Kilometer vor der schwedischen Insel Marstrand. Ein Taucher ist im trüben Wasser der Ostsee unterwegs. Plötzlich stockt er. In 20 Metern Tiefe sieht er ein seltsames Metallobjekt. Mit viel Mühe gelingt es ihm, den schweren Gegenstand ans Land zu bringen.

Um zu erfahren, was es mit Objekt auf sich hat, sucht er das Museum Gothenburg – das Göteburger Stadtmuseum – auf. Doch auch hier weiß man nicht weiter. Also kontaktieren die Mitarbeiter ihre Kollegen im Bohuslans-Museum. Und die identifizieren den Gegenstand als historische Kanone.

Reste eines Pulverbeutels im Innern der Kanone

Im Innern des Kanonenrohrs wurden die Reste der Pulverkartusche gefunden. Foto: © Staffan von Arbin/ The Mariner’s Mirror, CC-by-nc-nd 4.0

Handelt es sich um eine Schiffskanone? Es wird kein Wrack an der Fundstelle gefunden. 2006 wird das Fundstück genauer untersucht.

Im Inneren der Kanone findet sich ein versteckter Hinweis: der Stoffrest eines Pulverbeutels. Solche Materialien wurden beim Laden von frühen Kanonen verwendet. Die Marstrand-Kanone, wie sie seit ihrer Entdeckung genannt wird, dürfte wohl beim Sinken des Schiffs geladen gewesen sein.

Die Kanonen aus verschiedenen Perspektiven. Foto: © Anders Gutehall, Visuell Arkeologi Norden/Staffan von Arbin/ The Mariner’s Mirror, CC-by-nc-nd 4.0

Wie alt ist die Marstrand-Kanone?

Doch wie alt ist sie? Kanonen dieses Typs wurden erst im 15. und 16. Jahrhundert eingesetzt. In Europa waren die ersten Kanonen seit Mitte des 14. Jahrhunderts auf Schiffen zu finden. Es handelte sich um Waffen kleinen Kalibers – zum Teil Hinterlader sowie Feldschlangen, die mehr zum Einsatz gegen die Mannschaften als gegen die hölzernen Schiffsrümpfe gedacht waren.

17 Jahre später: Ein Team unter Leitung des Archäologen Staffan von Arbin von der Universität Gothenburg untersucht im Frühjahr und Sommer 2023 das Textilfragment erneut. „Dank der erhaltenen Überreste der Sprengladung war es möglich, das Alter des Fundes mithilfe der Radiokarbondatierung zu bestimmen“, sagt von Arbin. Ihre Studie haben die Forscher jetzt im Fachjournal „The Mariner’s Mirror“ veröffentlicht.

Entstehungszeit der Kanone:1285 bis 1399

Karte mit dem Fundort. Foto: © Anders Gutehall, Visuell Arkeologi Norden/Staffan von Arbin/ The Mariner’s Mirror, CC-by-nc-nd 4.0

Das Ergebnis ist sensationell: Der Fetzen vom Pulverbeutel stammt „mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit“ aus den Jahren 1285 bis 1399. Damit wäre die Kanone das älteste erhaltene Schiffsgeschütz Europas.

Das Kanonenrohr ist nur rund 50 Zentimeter lang und aus einer bleihaltigen Kupferlegierung gefertigt. Eigentlich ist diese Metallmixtur zu spröde für Kanonen. Dies beweist, dass die Schiffsartillerie vor rund 700 Jahren noch ganz am Anfang stand, wie die Wissenschaftler betonen.

Sowohl das 1495 gesunkene dänische Flaggschiff „Gribshunden“ als auch das 1543 gesunkene englische Kriegsschiff „Mary Rose“ hatten Kanonen an Bord. Unklar war bisher, wann erstmals Schiffe mit dieser Art der Artillerie bewaffnet wurden. „Unser Wissen über die frühesten Formen von Schießpulver-Waffen und ihre Nutzung in Europa sind überraschend mager“, erläutert Staffan von Arbin.

Quellenlage und archäologische Funde sind dürftig

So erwähnen zwar einige wenige historische Dokumente den Einsatz von Kanonen auf Schiffen aus dem 14. Jahrhundert, aber Näheres dazu wird nicht berichtet. Die erste bekannte Verwendung von Schiffsgeschützen fand demnach am 24. Juni 1340 in der Seeschlacht von Sluis vor der Küste der niederländischen Provinz Zeeland statt. Es war die erste große direkte Konfrontation zwischen dem Königreich England und dem Königreich Frankreich während des Hundertjährigen Krieges von 1337 bis 1453.

Ähnlich dünn wie bei der Quellenlage sieht es auch bei den archäologischen Funden aus. Die bisher frühesten datierbaren Schiffswracks mit Kanonen sind das 1440 vor Sizilien gesunkene „Cavoli“-Wrack und eben die „Gribshunden“ von 1495.

„Damit ist die Marsstrand-Kanone nicht nur älter als jeder andere Fund von Schiffsartillerie in Europa. Sie ist auch das älteste Stück Artillerie, das jemals entdeckt wurde“, berichten Staffan von Arbin und seine Kollegen. Der Fund belege zudem, dass Pulverkartuschen früher in Gebrauch waren als bisher angenommen.

Militärische und politische Rückschlüsse

Die Marstrand-Kanone lässt wichtige Rückschlüsse auf die Entwicklung maritimer Artillerie zu. Und: Der Fund vermittelt Einblicke in die politische Machtverteilung in der Region im 14. Jahrhundert. Der Hafen der Inselstadt Marstrand war im Spätmittelalter ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt für den Handel zwischen Westeuropa und dem Ostseeraum. Neben Gefechten der Ostsee-Anrainerstaaten Schweden, Dänemark und Norwegen bestand immer auch die Gefahr von Piratenüberfällen. Wer über eine solche neuartige Waffe verfügte, war gegenüber dem Gegner militärtaktisch eindeutig im Vorteil.

„Als nächstes wollen wir versuchen, das Schiff zu dieser Schiffskanone zu finden“, sagt Staffan von Arbin. „Es ist zwar wahrscheinlich stark degradiert und zerbrochen, aber wenn wir eine gründliche Durchsuchung der Fundstätte und ihrer Umgebung durchführen, könnten wir noch Trümmer des Schiffswracks finden.“