Die deutsch-iranische ARD-Journalistin Natalie Amiri war am Sonntag zu Gast bei Anne Will. Foto: IMAGO/Jürgen Heinrich

In der ARD-Talkrunde herrscht Skepsis über einen Einmarsch im Gaza, Außenministerin Baerbock gibt Rätsel auf und die deutsch-iranische ARD-Journalistin Natalie Amiri sieht nicht die Hamas als Kernproblem.

So eine Talkrunde hat immer ein Überraschungsmoment, aber diese von Anne Will am Sonntagabend zur Frage, ob im Nahen Osten ein Flächenbrand drohte, hatte gleich zwei.

Zum einen war da die doch vernehmbare Skepsis bei vielen der sechs Studiogäste, ob eine Bodenoffensive der Israelis im Gaza-Streifen wirklich der Weisheit letzter Schluss sei, zum anderen war da die deutsch-iranische ARD-Journalistin Natalie Amiri („Weltspiegel“, früher Iran-Korrespondentin), die nicht die Hamas als Kernproblem des Gaza-Konfliktes, sondern ihren finanziellen Unterstützer, den Iran, als Wurzel allen Übels bezeichnete.

Entschuldigung für die Wortwahl

„Iran zündelt, Iran feiert die Hamas und zählt die Restlaufzeit von Israel.“ Aufmerksamkeit erregte Amiri dann mit einer Aussage, für die sie sich vorab wegen der Wortwahl entschuldigte: Sie hatte die Stimmungslage im Iran analysiert, wo das Regime „mit dem Rücken zur Wand“ stehe und eine Begebenheit vom Sonntag im Azadi-Stadion von Teheran, wo bei einem Fußballspiel die berüchtigten Basidsch-Schlägermilizen mit palästinensischen Fahnen wedelten.

„Steckt euch eure Palästina-Flaggen in den Arsch, hat da eine Mehrheit im Stadion gerufen“, berichtete Natalie Amari. So ist die Stimmungslage offenbar im iranischen Volk, ihm ist der hohe finanzielle Aufwand der Unterstützung der Hamas im Gaza und der Hisbollah im Libanon zuwider.

Offensive als eine Falle

Ob das so bleibt, ist nicht sicher. Amiri warnte unverblümt vor einer Bodenoffensive der Israelis im Gaza. Die könnte nämlich für Israel „zur politischen Falle“ werden, sie entspreche dem Kalkül der Hamas, die nur darauf warteten, die „Bilder von blutenden Kindern aus dem Gaza“ in die Welt zu schicken.

Das könnte einen solidarisierenden Effekt haben, ein „Erdbeben“ in der Region auslösen und die schiitische Verteidigungsachse – Iran, Syrien, Libanon – mobilisieren. „Es ist wirklich bedrückend, das könnte eine Bewegung in der Region auslösen und einen Flächenbrand.“

Zwischen Hammer und Amboss

Auch der in Tel Aviv geborene Publizist und Historiker Michael Wolffsohn sagte, er halte eine Bodenoffensive für einen „politischen und militärischen Fehler“, er sei aber „kein General“ und könne jetzt auch nicht genau sagen, auf welchem Wege Israel sein legitimes Ziel erreichen könne, „das Gewaltpotenzial der Hamas zu zerstören“ ohne die zivilen Menschen im Gaza („Ich spüre auch Mitleid für die palästinensischen Opfer“) zu schädigen. Vielleicht sei es ein Weg, den kompletten Gaza abzusperren und Fluchtrouten zu eröffnen.

Die Hamas seien im Übrigen die wahren Verräter des palästinensischen Volkes, meinte Wolffsohn, die Israelis hätten sich 2007 bereits komplett aus dem Gaza zurückgezogen, es war früher sogar mal die Rede davon, dass man diesen Küstenstreifen zum „Singapur“ oder „Hongkong“ des Nahen Ostens hätte machen können, die Hamas habe eine Entwicklung verhindert. Und heute? „Heute sind die Zivilisten im Gaza zwischen Hammer und Amboss.“

Zivilisten als Kriegsteilnehmer

Von einem Dilemma war vielfach die Rede in der Runde, dem Dilemma von Israel im Gaza einzugreifen und die Hamas zu zerstören und gleichzeitig zivile Opfer zu verhindern. Anne Will hakte da mehrmals nach, wie verantwortungsvoll und sinnvoll solch eine Operation sein könne. „Das Dilemma ist nicht aufzulösen“, sagte der frühere BND-Mitarbeiter Gerhard Conrad, der einst im Nahen Osten auch über die Freilassung von Geiseln verhandelte. Conrad äußerte sich nicht dezidiert zu einer Bodenoffensive, er meinte nur, „schöner wäre es, sie würde nicht stattfinden.“

Aber seine Analyse weckte doch Skepsis: Zum einen erinnerte er daran, dass es zur asymmetrischen Kriegsführung der Hamas gehöre, die Zivilbevölkerung in den Krieg mit einzubeziehen und sie als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen. Selbst Frauen und Kinder seien verpflichtet, im Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen mitzumachen, und eine solche Einstellung habe „mit gesundem Menschenverstand eigentlich nichts zu tun.“

Drei Teenager 2014 entführt

Zweifel an einem Einmarsch ließen sich auch an Conrads Verweise auf israelische Militäroperationen im Gaza in den Jahren 2009, 2014 und 2018 ablesen. Auch da sei es immer um einen „Hot pursuit“ gegangen, um eine direktes, bewaffnetes Nacheilen in den Gaza im Zuge von Provokationen oder Entführungen. Alle mit mäßigem Erfolg.

Mit sieben Wochen am längsten währte eine Invasion im Gaza 2014 nach der Entführung von drei israelischen Teenagern, die mit mehr als 2000 Toten endete. Bei der völkerrechtlichen Bewertung der Einsätze durch die UN sei Israel noch mal „mit einem blauen Auge davon gekommen“, so Conrad.

Armeesprecher will „alle“ Täter

Aber ob und in welchem Ausmaß es zur Bodenoffensive kommt, das steht noch nicht fest und Israels Armeesprecher Arye Sharuz Shalicar wollte es Anne Will selbstverständlich auch nicht beantworten. „Das Land steht komplett unter Schock. Der 7. Oktober wird mich mein Leben lang begleiten“, so Shalicar. Dies sei für ihn wie ein neuer Jom-Kippur-Krieg. Man werde in den nächsten Wochen und Monaten diejenigen, die Menschen einfach „abgeschlachtet“ hätten, zur Rechenschaft ziehen, keiner von ihnen werde je wieder „einen freien Tag erleben“. Man werde die Hamas in ihren Hauptquartieren angreifen, die sie in zivilen Objekten verborgen hätte, aber man werde Zivilisten schonen.

Aber sei das denn „umsetzbar“, frage Anne Will. Die Hamas verschanze sich schließlich in Bunkern, Tunneln und hinter Sprengfallen, sei da ein Bodeneinsatz auch gegenüber israelischen Soldaten überhaupt verantwortbar? Das sei der Job von Soldaten, entgegnete Shalicar. Er berichtete von 150 Familien, die Israel informiert habe, dass „ihre Liebsten“ zu Geiseln genommen worden seien, darunter Frauen, viele Kinder und sogar ein neun Monate altes Baby. Möglich, dass sie in 30 bis 40 Meter Tiefe in den Tunneln der Hamas versteckt seien, es gebe 1000 solcher Gänge im Gaza-Streifen.

Wie bei einem Banküberfall

Bevor Außenministerin Annalena Baerbock zu geschaltet worden ist, hat sich auch SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert – der blasseste in der Runde – noch auf Fragen von Anne Will rechtfertigen müssen, warum die Bundesregierung denn anders als die UN, Großbritannien, Frankreich und die USA nicht mahnend auf die Einhaltung des Völkerrechts in Israel drängen würde.

Kühnert sagte, schon allein, wenn über das Völkerrecht gesprochen werde, was man ja hier tue, helfe es bei seiner Durchsetzung. Im Übrigen verhalte sich Israel den Regeln entsprechend, es behandele beispielsweise verletzte Hamas-Täter in seinen Krankenhäusern. „Aber die Lage ist wie nach einer Geiselnahme nach einem Überfall auf eine Bank“, so Kühnert. Wie man gegen die Täter vorgehe und Unbeteiligte schone, das sei ein mit Worten nicht lösbares Dilemma.

Ministerin legt Messlatten an

Bei Außenministerin Baerbock war die Betroffenheit über die Eindrücke von ihrer Israel-Reise in ihrer Videozuschaltung noch spürbar. „Das erschüttert einen in Mark und Bein“, so Baerbock. Ihr sei von einem israelischen Vater aufgetragen worden, seine Geschichte – wie seine Frau und seine Kinder in einem Kibbuz auf einem Pickup geworfen und entführt worden sind – in die Welt zu tragen. Die Hamas gehe „barbarisch“ vor und es existierten abscheuliche Fotos von ihren Taten. „Israel hat das Recht und die Pflicht seine Staatsangehörigen zu befreien. Ich werde mir nicht anmaßen, zu sagen, was da die richtigen Schritte sind“, sagte Baerbock. Aber indirekt legte sie doch einige Messlatten ein, wie das militärische Verhalten Israels zu bewerten sein wird.

Man dränge in Gesprächen mit den USA und der Türkei darauf, humanitäre Schutzzonen zu schaffen mit einer geregelten Wasser- und Lebensmittelversorgung. Man könne den Terrorismus nicht so bekämpfen, dass dabei Tausende an Unschuldigen ums Leben kämen, denn dann werde „ein neuer Terrorismus“ an Anhängerschaft gewinnen, sagte sie.

Im Gaza leben 2,1 Millionen

Baerbock hofft, dass die jüngst eingeleitete Annäherung von Regionalmächten wie Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten und Jordanien an Israel durch den neuen Konflikt nicht torpediert wird, sondern dass sie weiter gehen wird. Sie alle arbeiteten daran, einen Flächenbrand zu verhindern.

„Darum ist es aber so wichtig – trotz unserer vollen Solidarität mit Israel – das Leiden von Zivilisten im Gaza zu verhindern.“ Dort lebten 2,1 Millionen Menschen, die Hälfte davon seien Kinder, sie seien dringend auf Wasser, Lebensmittel und eine Gesundheitsversorgung angewiesen.

Hinweis auf deutsche Geiseln

Ein kleines Rätsel gab die Außenministerin in ihrem Statement aber auch auf. Dezidiert bemerkte sie, dass sie in Kairo bei Gesprächen mit Vertretern von Ägypten, der Türkei und Katar darauf hingewiesen habe, „dass es auch deutsche Geiseln gibt“. Man habe deshalb auch Fotos zur Verfügung gestellt, denn Katar und die Türkei hätten „gute Kanäle“ zur Hamas, und sie hoffe, dass man die nutzen könne. „Vielleicht ist es den Hamas-Kämpfern gar nicht bewusst, dass sie auch deutsche Geiseln haben“, meinte Baerbock.

Was aus diesem Hinweis zu folgern ist, das blieb allerdings rätselhaft und wurde nicht hinterfragt. War es ein versteckter Hinweis auf die Geiselbefreiung der „Landshut“ 1977 in Mogadischu durch die deutsche GSG9? Sicher nicht. „Diese Geiselnahme ist anders als zu anderen Zeiten. Die Hamas kopiert mit ihrem Terror jetzt den Islamischen Staat“, sagte Annalena Baerbock.