Beim Mammografie-Screening können Tumore in der Brust entdeckt werden – aber leider nicht alle. Foto: picture alliance/dpa/Hannibal Hanschke

Wie hoch ist mein persönliches Risiko, an Krebs zu erkranken? Diese Frage könnte bald beantwortet werden: Krebsforscher aus Heidelberg haben Vorhersagemodelle entwickelt, um Menschen mit hohem Krebsrisiko frühzeitig herauszufiltern.

Krebs ist noch immer das größte Angstgespenst der Bundesbürger. Umfragen zufolge fürchten sie Tumorerkrankungen mehr noch als Herz-Kreislauf-Leiden, Demenz, Unfälle und Infektionskrankheiten. Nicht ganz zu unrecht: Statistisch gesehen erkrankt fast jede zweite Frau und jeder zweite Mann in Deutschland im Laufe des Lebens dran, wie es zum Weltkrebstag am 4. Februar veröffentlicht worden ist. Doch wie genau lässt sich das persönliche Krebsrisiko vorhersagen? Mit dieser Frage haben sich Heidelberger Krebsforscher beschäftigt – und Modelle entwickelt, die klären können, welche Personen besonders gefährdet sind, in den kommenden Jahren an Krebs zu erkranken oder andere Krankheiten zu entwickeln.

Wieso reichen die bisherigen Früherkennungsprogramme nicht aus?

„Noch immer haben wir das Problem, dass Früherkennungsprogramme nur für wenige Krebsarten existieren und dort auch noch sehr ungenau sind und viele falsch-positive Ergebnisse produzieren“, sagt Moritz Gerstung von der Forschungsgruppe Künstliche Intelligenz in der Onkologie am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Auch werden Tumorerkrankungen teilweise übersehen – etwa beim Mammografie-Programm: Der Statistik zufolge erhalten bei 1000 teilnehmenden Frauen im Alter ab 50 Jahren sechs Frauen frühzeitig einen positiven Befund. Gleichzeitig gibt es aber auch bei 24 Frauen einen falschen Alarm und bei zwei Teilnehmerinnen wird der Tumor beim Screening gar nicht entdeckt.

Wie kommt das Modell zum Einsatz?

Das große Ziel der Forscher ist es, die Früherkennung für Tumorerkrankungen zu verbessern: „Wird der Tumor früh erkannt und gezielt behandelt, steigen die Heilungschancen“, sagt Gerstung. Bislang gibt es solche Screenings aber nur für eine begrenzte Zahl von Krebsarten wie zum Beispiel Brustkrebs. Es werden aber aktuell Tests in klinischen Studien erprobt, die weitere Krebsarten erkennen könnten. „Unsere Vorhersagemodelle könnten helfen, Menschen mit hohen Krebsrisiken zu identifizieren, die man gezielt in Studien zur Früherkennung aufnehmen könnte; dies hilft, die Trefferquoten solcher Tests zu erhöhen“, sagt Gerstung.

Wie funktionieren Vorhersagemodelle?

Für die Entwicklung ihrer Modelle haben die Datenwissenschaftler um Gerstung auf dänische Gesundheitsdaten zurückgreifen können. „Die Vorhersagemodelle wurden mit den Daten von 6,7 Millionen Dänen aus den Jahren 1995 bis 2014 trainiert“, so Gerstung. Es handelte sich um 90 Millionen Krankheitsdiagnosen, darunter 445 000 Krebserkrankungen von 20 verschiedenen Tumorarten. Dazu flossen mehr als 1000 unterschiedliche Vorerkrankungen ein, sowie Krebserkrankungen bei Familienmitgliedern und das Alter bei der Diagnose. Waren Gewicht oder Größe sowie Risikofaktoren wie Rauchen bekannt, wurden diese Daten eingespeist. Anschließend wurden die Modelle an Daten von 2015 bis 2018 validiert, die 4,7 Millionen Millionen Dänen umfassen. Die Ergebnisse dieser Studie erschienen im Juni 2024 in der Fachzeitschrift Lancet Digital Health.

Wie gut ist die Vorhersage?

Die Modelle der Forscher ermöglichen eine Aussage über die individuellen Risiken, an 20 verschiedenen Tumorarten zu erkranken. Besonders gut gelang die Vorhersage bei Tumorarten in Magen und Darm, sowie für Schilddrüsen-, Nieren und Gebärmutterkrebs. „Die Modelle ermitteln die statistischen Zusammenhänge zwischen Vorerkrankungen, Familiengeschichte und Lebensstil – basierend auf den tausenden oder Millionen von Fällen, mit denen sie trainiert worden sind“, sagt Gerstung. Nach wie vor spielt aber auch der Zufall eine Rolle: „Die Analysen ermöglichen keine exakte Vorhersage, bei welcher Person Krebs wirklich auftreten wird“, sagt Gerstung. Sie stellen aber das individuelle Risiko fest und ermöglichen einen Vergleich mit Personen ähnlicher Altersgruppe. Auch konnten Daten zu Risikofaktoren wie Rauchen oder Alkohol nur für einen geringen Teil der Personen erfasst werden. Dies beeinträchtigte ebenfalls die Treffsicherheit der Modelle.

Sind die Modelle auf andere Nationen übertragbar?

Ja. Dazu validierten die Forscher ihr Modelle auch an Daten der britischen UK Biobank. Es wurde dabei eine vergleichbare Treffsicherheit erzielt. „Voraussetzung dafür ist eine Datenbasis, wie sie derzeit nur in einigen Ländern verfügbar ist.“ Auch Deutschland hat begonnen, eine vergleichbare digitale Gesundheitsstruktur aufzubauen.

Lassen sich die Vorhersagemodelle auch auf andere Krankheiten ausweiten?

In einem neueren Modell, das die Forscher Delphi nannten und das aktuell als sogenanntes Preprint vorliegt, untersuchten die Forscher, inwieweit sich der Ansatz auch auf weitere Krankheiten übertragen lässt. „Tatsächlich können wir zeigen, dass wir zu nahezu jeder Krankheit Vorhersagen treffen können“, sagt Gerstung. Viele Erkrankungen treten altersbedingt auf, es zeigt sich aber, dass sich darüber hinaus noch genauere Aussagen basierend auf der individuellen Krankengeschichte treffen lassen. „Man gibt den Krankheitsverlauf bis zu einem bestimmten Alter ein – dann kann man beispielhaft den weiteren Verlauf simulieren“, sagt Gerstung. So lassen sich beispielsweise auch für Herz-Kreislauf-Erkrankungen die individuellen Risiken jeweils bestimmen. Solche Bewertungen könnten nicht nur zukünftig eine gezieltere Behandlung ermöglichen, sondern auch der Gesundheitspolitik helfen, die Krankheitslast der Bevölkerung besser vorherzusehen und zu berechnen – was auch der Planung des Gesundheitssystems zugute kommen könnte.