Irgendwann zwischen Kindergarten und Schule wollen sich Kinder nicht mehr vor jedem nackt zeigen. Foto: imago/Westend61

Scham zu empfinden, unterscheidet den Menschen vom Tier. Wie Eltern ihre Kinder auf dem Weg zu einem gesunden Körpergefühl unterstützen können – und was sie unbedingt vermeiden sollten.

Am Anfang war die Scham – zumindest nach der Bibel: Als Adam die verbotene Frucht nascht, ist’s bei Eva und ihm vorbei mit dem paradiesischen Zustand der Unbedarftheit: „Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze“, heißt es im ersten Buch Mose.

Dass die Scham ein urmenschliches Gefühl ist, ja, eines, das ihn aus- und einzigartig macht, wissen nicht nur Bibelkundige, sondern auch Verhaltensforscher, Anthropologen und Ethnologen. Laut Gabriele Haug-Schnabel sind sie sich einig, dass es in allen Kulturen Schamgrenzen gab und gibt, vermutlich schon in der Frühzeit des Homo sapiens. Und: „Es gibt Scham nur beim Menschen“, schreibt die Ethnologin. Im Tierreich beobachte man beispielsweise kein Bedürfnis, die Geschlechtsorgane zu bedecken.

Stolz schlägt in Prüderie um

Tatsächlich bildet sich das Gefühl der Körperscham bei Kindern im Laufe der frühen Kinderjahre aus. Während Babys und sehr kleine Kinder noch stolz auf alle Körperteile und Funktionen sind, kein Problem mit Nacktheit oder öffentlichen Toilettengängen inmitten ansonsten vollständig bekleideter Menschen haben, kann sich das schon ab drei Jahren ändern. Von einem Tag auf den anderen könne diese Freizügigkeit „in strenge Prüderie umschlagen“, heißt es in dem Aufsatz „Schäm dich!“ von Gabriele Haug-Schnabel.

Das Alter, in dem die Scham beginnt, ist unterschiedlich. Die Psychologin Bettina Schuhrke hat in einer Studie ermittelt, dass bei den meisten Kindern die Körperscham mit etwa fünf Jahren einsetzt. Mit sieben zeigten dann alle von ihr untersuchten Kinder dieses Gefühl – und machten damit einen wichtigen Entwicklungsschritt durch. Denn um sich schämen zu können, muss das Kind sich seiner selbst bewusst sein, aber auch soziale Regeln kennen, zu denen es sein Verhalten in Beziehung setzen kann.

Grenzen setzen

Dass Scham ein wichtiges, schützendes Gefühl ist, betont Katrin Stallmann. Die Stuttgarter Sexualwissenschaftlerin und -pädagogin sagt: „Sie ist ein Werkzeug, um gegenüber anderen Kindern und auch Erwachsenen Grenzen zu setzen.“

Deshalb sei es so wichtig, dass Eltern mit den ersten Schamzeichen ihrer Kinder sensibel umgehen, sie nicht lächerlich machen, sondern ernst nehmen. Wenn Kinder also zeigen oder sagen, dass sie allein auf die Toilette gehen wollen, sich in bestimmten Situationen nicht ausziehen oder an Körperteilen nicht berührt werden wollen, sollten Eltern das akzeptieren.

Der Umgang mit Scham ist dabei Teil der Begleitung hin zu einem gesunden Umgang mit dem eigenen Körper und Sexualität, sagt Stallmann, die bei Pro Familia Kinder, Jugendliche, Fachkräfte und Eltern sexualpädagogisch berät. Zentral sei, Kindern zu vermitteln, dass sie selbst entscheiden, wer ihren Körper berühren darf. Dass sie Nein sagen können. Dabei lerne der Nachwuchs am Modell seiner Eltern. Wenn ein Kind ins Bad will, während Mama oder Papa auf dem Klo sitzen, dürfen die auch Nein sagen.

Wenn das Kind keinen Kuss will, müssen Eltern das achten

Dasselbe gilt anders herum: „Wenn das Kind zum Beispiel signalisiert, dass es gerade keinen Kuss will, gilt es, dies zu achten“, sagt die Pädagogin. Auch sollten Eltern Kinder um Erlaubnis fragen, bevor sie ihnen einfach die Nase putzen oder sie umarmen. „Erwachsene können mit ihrem Kind thematisieren, woran es merkt, dass sich etwas gut oder weniger gut anfühlt. Sie können das Kind fragen, wo im Körper das Gefühl sitzt und welche Farbe es hat. Alle Gefühle haben ihre Daseinsberechtigung.“

Welchen Einfluss der Umgang mit Intimität und Körper in der Familie auf das Schamempfinden von Kindern hat, haben vor einigen Jahren Forscher der Bundeszentrale für gesellschaftliche Aufklärung (BZGA) untersucht. Sie fanden eine Tendenz: Wenn Eltern freizügig mit der eigenen Nacktheit und der ihrer Kinder umgehen, setzt das Schamgefühl der Kinder tendenziell später ein.

Zu viel Scham in der Familie ist nicht gut

Katrin Stallmann sagt, dass ein Zuviel an Scham innerhalb der Familie Nachteile haben kann. „Kinder sollten nicht lernen, ihren Körper abzulehnen, sondern ihn lustvoll zu erkunden und liebevoll anzunehmen.“ Sexuelle Bildung sei ein Stück Prävention vor sexueller Gewalt. Gut aufgeklärte Kinder hätten eine Idee davon, welche Berührungen sich gut und weniger gut anfühlen. Sie bekämen eine Sprache für ihren Körper und wüssten, dass er etwas Schützenswertes ist. Außerdem sollte vermittelt werden, dass Scham etwas anderes ist als Schuld. „Täter und Täterinnen von sexualisierter Gewalt nutzen Schamgefühle aus, um Druck aufzubauen. Wenn Kinder sich schuldig fühlen, können sie sich schlechter anderen anvertrauen“, sagt Katrin Stallmann.

Aber wer legt überhaupt fest, wo die Scham beginnt? Die Forscher der BZGA betonen in ihrem Bericht, dass nicht nur die Eltern Einfluss darauf haben, sondern auch Freunde, Kindergarten, Schule, Medien.

Babys in Bikinis

Dabei können sich Schamgrenzen und -auslöser durchaus verändern. Während kleine Kinder früher in Bädern, am Strand oder in Parks selbstverständlich auch mal nackt unterwegs waren, tragen heute schon Babys Bikinis und Badeanzüge und lernen so: In der Öffentlichkeit zeige ich mich nicht nackt. Laut Katrin Stallmann ist das eine sinnvolle und Kinder schützende Entwicklung: „Das liegt schlichtweg an der Präsenz digitaler Endgeräte. Kein Elternteil möchte, dass Fotos der Kinder im Netz landen. In einem geschützten Rahmen, zum Beispiel zu Hause, kann Nacktheit jedoch als sehr positiv für Kinder empfunden werden.“

Apropos Netz: Verändern Internet und soziale Medien das Schamempfinden von Jugendlichen? Führen die überall verfügbaren Bilder von Nacktheit und Sex zu weniger Schamempfinden und mehr Offenherzigkeit? Oder verhalten sich junge Menschen – im Gegenteil – schamhafter, weil jeder verbale und visuelle Fehltritt schnell online landen kann? Katrin Stallmann kann weder aus ihrer Praxis noch aus der Forschung solche Trends bestätigen. In ihre sexualpädagogische Beratung kommen Kinder und Jugendliche, die zum Beispiel wissen wollen, ob mit dem „eigenen Körper alles stimmt“. Oder was im Bett normal ist und was nicht. Dann ist es der Pädagogin wichtig, „einen Raum zu schaffen, der es den Jugendlichen ermöglicht, schamfrei, wertfrei und selbstbestimmt über ihre Anliegen zu sprechen“.