Trotz der herben Niederlage bei der Europawahl stellen die Wahlverlierer Kevin Kühnert (SPD) und Jürgen Trittin (Grüne) Ansprüche. Aber ihre Wahlanalyse fällt schonungslos aus
Es war das Wundenlecken danach am Wahlabend in der ARD-Talkrunde von Caren Miosga am Sonntag. Neben dem SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert und dem Ex-Grünen-Außenpolitiker Jürgen Trittin (nach einer Pause hinzu geschaltet) war der CDU-Vizeparteichef Jens Spahn geladen, und der konnte sich feixend seine Schadenfreude angesichts der Schlappe für die Ampelparteien bei der Europawahl nicht verkneifen: Im Herbst habe man Landtagswahlen in Ostdeutschland und in Sachsen beispielsweise marschiere die SPD auf die Fünfprozenthürde zu: „Da wird die SPD zum Bollwerk gegen Feldhamster.“ Wer halte denn mit fünf Prozent noch irgendetwas auf?
Spahn machte vor allem Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) für die Niederlage der Regierungsparteien verantwortlich: „Die Ampel macht eine Politik gegen die Mehrheit der Bevölkerung.“ Der Kanzler habe sich beim Thema Frieden bewusst positioniert im Wahlkampf, aber er schaffe es nicht, das Thema „mit sich zu verbinden“.
„Vierte Vollklatsche für die SPD“
Das sei jetzt nach drei Landtagswahlen die vierte „Vollklatsche“, die die SPD kassiert habe. „Ich glaube nicht, dass Olaf Scholz das Ding noch drehen kann.“ Der Hinweis von Caren Miosga, dass laut Nachwahlumfragen immerhin 23 Prozent meinten, dass Scholz „ein guter Kanzler“ sei und nur 20 Prozent dies dem CDU-Parteichef Friedrich Merz attestierten, hielt Spahn für unfair: Der Scholz müsste doch eigentlich vom Amtsbonus profitieren, Merz sei ja noch in der Opposition.
Für Kevin Kühnert war die erwähnte Kanzlerstatistik immerhin „kein Beleg dafür, dass nur der Kanzler getauscht werden muss“. Ansonsten war seine Analyse der SPD-Schlappe auch schonungslos: „Das ist jetzt kein Phrasenschwein: Aber wir haben was aufzuarbeiten.“ Themen wie Friedenssicherung und soziale Gerechtigkeit seien für die Wähler wichtig gewesen, aber die SPD habe ihre Stärke bei diesen Themen nicht in Erfolge ummünzen können.
Kühnert nervt das„Herumquaken“
Auf den Vorhalt von Caren Miosga, dass bei der SPD-Wahlniederlage von 2019 – die SPD schaffte damals bei der EU-Wahl nur 16 Prozent - ein personelles Beben stattfand und SPD-Chefin Andrea Nahles alle Ämter niederlegte, sagte Kevin Kühnert: „Wenn eine Partei nicht auf solche Wahlergebnisse reagiert, hat sie wirklich ein Problem. Aber sie hat auch ein Problem, wenn alle am Wahlabend herumquaken.“ Dies war offensichtlich eine Anspielung auf ein zuvor von Miosga gebrachtes Zitat von Ex-SPD-Parteichef Sigmar Gabriel, dass die Bevölkerung „durch mit dieser Regierung“ sei.
Grüne jetzt als „Hassfigur“?
Auch Jürgen Trittin – Ex-Bundesumweltminister, außenpolitischer Experte und jetzt Graue Eminenz bei den Grünen – empfahl seiner Partei nun „Nachdenklichkeit und Selbstkritik“ . Er wies darauf hin, dass Parteien wie ÖDP oder Volt Stimmen der Grünen abgesaugt hätten und zwar bei Wählern, denen die Grünen „nicht genügend ökologisch“ seien.
Miosga hakte nach mit der Frage, wie sich die Grünen denn in Deutschland „vom heißen Scheiß‘“ zur „Hassfigur“ hätten entwickeln können? „Wir haben die Veränderungsbereitschaft der Bevölkerung unterschätzt und Veränderungen nicht mit Sicherheit verknüpft – das ist gefährlich.“ Ansonsten aber lobte Trittin die Arbeit der Ampel-Regierung - der Wirtschaftsminister Habeck habe das Land ohne Rezession durch die Krise geführt – und Trittin widersprach dem Image der Grünen als Verbotspartei: „Die CSU in Bayern verbietet den Beamten eine gendergerechte Sprache. Die sind doch eine Verbotspartei.“
Auch Scholz arbeitet mit Meloni
Interessant wurde die Debatte um die Zukunft der EU, die Caren Miosga mit der Frage einleitete, ob die deutsche EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) denn bei einer möglichen Wiederwahl „ernsthaft“ mit den „Postfaschisten“ von Italiens Ministerpräsidentin Georgina Melonis „Fratelli d’Italia“ zusammen arbeiten wolle, falls Grüne, Liberale und Sozialisten ihr die Unterstützung verweigern. Jens Spahn antwortete ausweichend, es sei ja alles in Ordnung, „wenn Grüne und SPD“ von der Leyen unterstützen und es gebe ja einige in den Parteien, die sich patriotisch zeigten. Im übrigen arbeite aber auch Kanzler Scholz mit Meloni zusammen und habe sogar gesagt, er schätze die Zusammenarbeit mit ihr.
Für Kevin Kühnert sind das aber zwei paar Stiefel: Der Kanzler repräsentiere die Bundesregierung und müsse mit anderen Staatsvertretern zusammenarbeiten, selbst mit Xi Jinping aus China. Ein freies EU-Parlament unterliege aber solchen Zwängen nicht. Sozialisten, Liberale und Grüne würden von ihren Wählern „verprügelt“, wenn sie die Kandidatin einer anderen Parteienfamilie „bedingungslos“ wählten. Man werde Forderungen an das politische Arbeitsprogramm der Kommissionspräsidentin von der Leyen stellen, wie sie Klimaschutz, Wirtschaft, soziale Sicherheit und Frieden voranbringen wolle. „Die europäische Sozialdemokratie lässt sich nicht erpressen.“ Etwa nach dem Motto, „wenn ihr Euch nicht billig genug anbietet, gehen wir halt zu Frau Meloni und den anderen aus ihrer Ecke und machen es mit denen“.
Der Grüne Jürgen Trittin sah das ähnlich. Die große Frage sei doch, wie sich Europa jetzt zum „ernsten Player“ gegenüber China und den USA entwickeln könne. Er halte von der Leyen „für offen“, sich dieser globalen Frage zu widmen. Sie werde sich aber nur zur Wahl als EU-Kommissionspräsidenten stellen können, wenn die Bundesregierung sie vorschlage. Man werde jetzt eine „Reihe von Gesprächen“ führen müssen. Von der Leyen vermittle übrigens ein falsches Bild, wenn sie so tue, als ob sie es sei, die es sich nur auszusuchen brauche, von wem sie gewählt werden wolle: „Politisch wird sie sich auf die Ampel zubewegen müssen.“
Demokratische Mitte verliert
Eindringlich warnte Trittin davor, dass sich demokratische Parteien im EU-Parlament von antidemokratischen Kräften abhängig machen. Melanie Amann – Vize-Chefredakteurin des „Spiegels“ - sah das genauso und warnte vor einer möglichen Wahl von der Leyens mit Hilfe von Italiens Rechten. Man dürfe nicht ausblenden, was unter Meloni in Italien gerade passiere. Meloni versuche den Staat umzubauen und sich „absolutistisch“ ihre Macht zu sichern, und sie greife die freie Presse an. Das sei eine besorgniserregende Entwicklung.
Die Schlussfrage von Jens Spahn, warum die demokratische Mitte in Europa so massiv an extreme Parteien verliere, beantwortete er sich gleich selbst: Überall, wo Regierungen an der Mehrheit der Bevölkerung vorbei regierten, wechselten die Wähler zu rechten Parteien.