Das israelische Technologieunternehmen Mobileye experimentiert bereits in Tel Aviv mit selbstfahrenden Autos. Foto: Sixt/Mobileye/dpa

In aller Welt experimentieren Städte mit neuartiger Mobilität, zu der auch selbstfahrende Autos gehören. Der Mobilitätsforscher Andreas Herrmann warnt die Landespolitik und die Autohersteller davor, die Zukunft anderen zu überlassen.

Die Entwicklung selbstständig fahrender Autos schreitet voran, doch an Pilotprojekten für deren Einsatz mangelt es im Südwesten. Findet die Zukunft der Mobilität ohne das Land statt? Was Mobilitätsforscher Andreas Herrmann dazu sagt.

Herr Herrmann, viele Menschen in den Städten sehen sich durch Staus, Umweltbelastungen und Straßenverkehr in ihren Rechten beschränkt. Andere dagegen halten ihre Freiheit für gefährdet, wenn es für Autofahrer zu Verboten kommt. Gibt es da einen Ausweg?

Ein Drittel unserer Flächen benötigen wir für die Verkehrsinfrastruktur. Diese Flächen sind sehr wertvoll und könnten auch anders verwendet werden: etwa für Spielplätze, Cafés oder Begegnungsstätten. Um die Städte lebenswerter zu machen, müssten diese Flächen zurückgewonnen werden . . .

. . . was einen Teil der Autofahrer noch mehr verärgern dürfte.

Wenn man die Flächen einfach sperrt, wird die Aufregung groß sein, denn dann greift man ins Mobilitätsverhalten der Menschen ein. Deshalb brauchen wir eine Kombination aus Zuckerbrot und Peitsche.

Citymaut als Druckmittel

Fangen wir gleich mit der Peitsche an.

Das wären Verbote und Erschwernisse für Autofahrer – etwa in Form einer Citymaut, von Fahrverboten für bestimmte Motoren oder dem Rückbau von Parkplätzen, wie dies in Kopenhagen geschieht.

Und was wäre das Zuckerbrot?

Das Zuckerbrot sind Alternativen zum Individualverkehr, die funktionieren. Wichtig sind hier intermodale Transportmöglichkeiten, also eine Mobilität, bei der unterschiedliche Verkehrsträger vom Fahrrad bis zur S-Bahn miteinander verbunden werden. Der E-Scooter, den die App für einen Teil der Strecke anbietet, muss dann aber auch wirklich verfügbar sein, ebenso wie die S-Bahn-Verbindung, über die der Anschluss erfolgt. Auch autonom fahrende Robotaxis gehören dazu, nicht aber private Pkw.

Warum darf der Mensch nicht mehr selbst ans Steuer?

Der Mensch am Steuer stört in so einem System nur – er fährt viel zu hektisch und ruckelig. Das ständige Bremsen und Gasgeben erzeugt Staus und verschmutzt die Umwelt. Der Durchsatz an Fahrzeugen ist am größten, wenn die Autos autonom fahren und miteinander verbunden sind.

Umfragen zufolge haben viele Menschen Angst vor dem autonomen Fahren.

Das Vertrauen der Menschen muss diese Technologie sich erarbeiten. Deshalb ist es nötig, dass autonom fahrende Taxis in Pilotstädten eingesetzt werden. So können die Menschen erleben, wie gut diese Technologie schon heute funktioniert, und Vertrauen fassen.

Es werden weniger Autos benötigt

Wenn in den Städten nur noch Fahrzeuge, die man sich teilt, zum Einsatz kommen, werden insgesamt viel weniger Autos benötigt.

Im Durchschnitt steht ein Auto pro Tag um die 23 Stunden ungenutzt herum. Fahrzeuge, die geteilt werden, sind viel besser ausgelastet. Es werden dann weniger Autos gebraucht, was Energie und Rohstoffe einspart.

Auch die Fahrzeuge, die herumstehen, werden aber produziert, verkauft und gewartet, was gerade in Deutschland und der Region Stuttgart viele hoch bezahlte Arbeitsplätze schafft. Welche Auswirkungen hätte die von Ihnen vorgeschlagene Verkehrswende für die Arbeitsplätze?

Die Auswirkungen wären gravierend. Nach unseren Berechnungen lassen sich die Mobilitätswünsche der Menschen auch mit weniger als der Hälfte der Fahrzeuge erfüllen. Das heutige Geschäftsmodell der Autoindustrie, wonach Autos gekauft und vom Käufer gefahren werden, ist so alt wie das Auto von Henry Ford.

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Die Industrie muss sich dringend nach neuen Geschäftsmodellen umsehen, die dann auch neue Arbeitsplätze schaffen. Und die Politik sollte nicht auf eine Lobby hören, die den Status quo bewahren will, sondern vorangehen.

Was müsste die Autoindustrie tun?

Sie müsste sich darauf verlagern, nicht nur Autos zu bauen, sondern den Verkehr zu organisieren. Warum sollte nicht Mercedes den Verkehr in der Stuttgarter Innenstadt organisieren, wenn dort einmal keine privaten Pkw mehr einfahren dürfen? Autonome Robotaxis, die an ihre Stelle treten, könnten von Mietwagenfirmen ebenso bereitgestellt werden wie von Stadtwerken und Leasingunternehmen. Warum nicht auch von Mercedes?

Viele Jobs entstehen woanders

Wie viele Arbeitsplätze können durch neue Mobilitätsformen entstehen?

Man muss nur nach Israel schauen, in dessen Mobility Valley zwischen Jerusalem und Tel Aviv 600 Firmen entstanden sind. Die größte davon ist Mobileye, die für 2000 Stellen steht. Dort werden nicht Karossen hergestellt, sondern Sensorik und Software für die Autoindustrie. Auch mit Cybersicherheit beschäftigen sich viele Firmen. Um die Ansiedlung dieser zukunftsträchtigen Arbeitsplätze gibt es einen weltweiten intensiven Wettbewerb, an dem sich Deutschland und Baden-Württemberg viel zu wenig beteiligen. Je länger wir an unserem überkommenen Geschäftsmodell festhalten, desto schwieriger wird es, im Wettbewerb um die Jobs von morgen zu bestehen.

Welche Rolle spielt der Staat in Israel?

Eine sehr große. Die zuständige Behörde geht geradezu generalstabsmäßig vor – sie bringt Akteure zusammen, besorgt Grundstücke und stellt Anschubfinanzierungen zur Verfügung. Zumindest so etwas wie einen Runden Tisch würde ich mir auch für Baden-Württemberg wünschen.

Es fehlt an Leuchtturmprojekten

In Baden-Württemberg gibt es den Strategiedialog Automobilwirtschaft des Ministerpräsidenten.

Ja, aber es fehlt an Pilot- und Leuchtturmprojekten. Wenn man sieht, welche gewaltigen Summen Firmen aus Baden-Württemberg in Israel investieren, blutet einem als Baden-Württemberger das Herz. Dieses Geld könnte ebenso in Baden-Württemberg angelegt werden, wenn es dazu ausreichend Möglichkeiten gäbe. Ich habe bei der Wirtschaftsministerin auch schon angeregt, dass das Land hier aktiv wird, aber leider nicht einmal eine Antwort erhalten.

Ist es überhaupt Aufgabe der Politik, die Wirtschaft zu steuern?

Im Prinzip sollte die Politik die Wirtschaft nicht steuern. Aber wenn es gravierende Strukturbrüche gibt, brauchen wir sie als Koordinator. Dann müsste eine Wirtschaftsministerin oder ein Ministerpräsident vorangehen und sagen: Wir suchen jetzt eine Stadt aus, zum Beispiel Tübingen mit seinem progressiven Bürgermeister, und bringen diese Technologie einfach mal an den Start. Dann sehen wir, was funktioniert und wo es noch hapert; zudem finden die Akteure zusammen, und für die Öffentlichkeit wird erlebbar, was alles möglich ist. Wir müssen nur anfangen. Ansonsten entsteht die Mobilität der Zukunft ohne uns.