Mitte 2021 gab es eine Kundgebung vor der türkischen Botschaft in Berlin. Foto: dpa/Carsten Koall

Der türkische Geheimdienst stellt mutmaßlichen „Staatsfeinden“ auch im Ausland nach und verschleppt sie in die Türkei. Staatschef Recep Tayyip Erdogan billigt die Entführungen.

Am Morgen des 6. September 2022 machte sich Ugur Demirok in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku auf den Weg in sein Büro. Aber dort kam der 42-Jährige nicht an. Die letzte Spur, die seine Familie von ihm fand, war sein Wagen. Er stand unverschlossen an einem Straßenrand in der Nähe einer Auto-Waschstraße. Ein Mitarbeiter berichtete, er habe gesehen, wie mehrere maskierte Männer den Fahrer des Wagens in einen Minibus zerrten und davonfuhren. Bilder einer Sicherheitskamera hielten die Entführung fest.

Am 12. November war Ugur Demirok plötzlich wieder da. Die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu verbreitete ein Polizeifoto. Es zeigt Demirok in Handschellen zwischen zwei großen türkischen Fahnen. Der Mann ist unrasiert, sein Gesicht eingefallen, er wirkt verängstigt. Der Geheimdienst MIT habe Demirok „gefangen“, berichtete die regierungsnahe Zeitung „Sabah“. Auf ihn warte nun eine Anklage wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation.

Gülen-Anhänger im Visier

Kein Einzelfall. Der türkische Vizepräsident Fuat Oktay bestätigte vor zwei Wochen im Parlament in Ankara, dass Agenten des Geheimdienstes MIT „mehr als 100 Personen“ aus dem Ausland in die Türkei zurückgebracht hätten. Es dürfte sich überwiegend um Anhänger des Exil-Predigers Fethullah Gülen handeln. Erdogan macht seinen früheren Verbündeten Gülen für den Putschversuch vom 15. Juli 2016 verantwortlich. Seine Bewegung ist in der Türkei unter dem Kürzel Fetö bekannt und als Terrororganisation verboten. Der 81-jährige Gülen, der 1999 ins selbstgewählte Exil in die USA ging und von dort ein weltweites Netz islamischer Bildungseinrichtungen aufbaute, bestreitet jede Beteiligung an dem Putschversuch.

Auch Ugur Demirok, der in Baku in einem Unternehmen für Medizintechnik arbeitete, soll der Gülen-Bewegung angehört haben. „Kein Land und keine Gegend auf der Welt wird ein sicherer Zufluchtsort für Fetö-Mitglieder sein“, hatte Erdogan bereits am 19. September 2016 verkündet, zwei Monate nach dem Putschversuch. Aufsehen erregte ein Fall im März 2018. Damals entführten Agenten des MIT in einer Nacht- und-Nebel-Aktion fünf türkische Lehrer aus dem Kosovo in die Türkei. Sie sollen an einer Schule der Gülen-Bewegung gelehrt haben. Wenige Wochen später verschleppten Agenten drei türkische Lehrer aus dem zentralafrikanischen Gabun nach Istanbul. Erdogan erklärte: „Wir werden solche Operationen durchführen, wo auch immer sich Fetö-Anhänger aufhalten.“ Vizepremier Bekir Bozdag bestätigte damals, der Geheimdienst habe bereits 80 Gülen-Anhänger in 18 Ländern „eingepackt und in die Türkei gebracht“.

Opfer öffentlich präsentiert

Im Mai vergangenen Jahres traf es den türkischen Schuldirektor Orhan Inandi. Er leitete in der kirgisischen Hauptstadt Bischeck eine Bildungseinrichtung, die Gülen zugerechnet wird. Inandi verließ seine Wohnung, um zu einer Verabredung zu fahren. Später fand man sein Auto mit offenen Türen und platten Reifen. Fünf Wochen danach präsentierte Erdogan auf einer Pressekonferenz in Ankara stolz ein Foto, das Inandi in Handschellen zwischen zwei türkischen Flaggen zeigt. „In sorgfältiger und geduldiger Arbeit hat der MIT Orhan Inandi in die Türkei zurückgebracht“, berichtete Erdogan. Schon 2019 hatte die Türkei Inandis Auslieferung beantragt. Kirgisien lehnte ab, weil der Lehrer die kirgisische Staatsbürgerschaft besaß.

Viele Erdogan-Gegner und Bürgerrechtler, die in den vergangenen Jahren ins Ausland geflüchtet sind, leben in Angst. Auch wenn sie sich vor Auslieferung sicher glaubten, müssen sie fürchten, in die Türkei verschleppt zu werden, wie Orhan Inandi. Auch um Fethullah Gülens Auslieferung bemüht sich die Regierung seit Jahren – erfolglos. Im vergangenen Jahr entführte der MIT seinen Neffen Selahaddin aus Kenia. Gülen selbst, der gut bewacht auf einem Landsitz in Saylorsburg in Pennsylvania lebt und inzwischen 81 Jahre alt ist, dürfte dort vor den türkischen Agenten relativ sicher sein.