Sicherheitskräfte drängen Demonstranten zurück, die gegen Missstände im Parlament protestieren. Foto: dpa/Chokri Mahjoub

Kein anderes Land der Region wird aus dem Ausland derart finanziell unterstützt wie Tunesien. Dennoch herrschen Finanzkrise und Reformstau. Die Erfolgsgeschichte des Arabischen Frühlings steht auf dem Spiel.

Tunis - In den Flüchtlingsbooten von Nordafrika nach Europa sitzen immer mehr Tunesier. Nach UN-Angaben war Tunesien im vergangenen Jahr das Hauptherkunftsland von Bootsflüchtlingen in Italien: Rund 13 000 Tunesier wagten die lebensgefährliche Reise über das Meer – fünfmal so viele wie 2019.

Dabei gilt ihr Land als Erfolgsmodell, weil dort der Übergang vom Arabischen Frühling zur Demokratie gelang. Doch Tunesien steckt trotz Millionenhilfen aus den USA und Europa in einem Strudel aus Überschuldung und Reformstau. Jetzt bewirbt sich die Regierung in Tunis um einen Milliardenkredit des Internationalen Währungsfonds (IWF), doch auch das würde die Probleme nicht lösen. Einige Politiker in Tunis befürchten, ihr Land könnte ein zweiter Libanon werden: ein Staat, der an der Dauerkrise zerbricht.

In Tunesien folgte dem Arabischen Frühling die Demokratie

In Tunesien begann im Dezember 2010 die Welle von Protesten, die in mehreren Ländern des Nahen Ostens autokratische Herrscher entmachtete. Anders als in Libyen, Ägypten oder Syrien, wo sich die Hoffnung auf Freiheit zerschlug, gelang der Übergang zur Demokratie. Doch inzwischen macht sich Enttäuschung breit. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 18 Prozent, die Wirtschaftskraft ging im vergangenen Jahr wegen der Pandemie um fast neun Prozent zurück; im ersten Vierteljahr 2021 schrumpfte die Wirtschaft um weitere drei Prozent. Die Staatsverschuldung liegt bei 91 Prozent der Wirtschaftsleistung.

Vor allem junge und gut ausgebildete Tunesier verlassen das Land, um in Europa eine bessere Zukunft zu suchen. Die Regierung in Tunis, die im Parlament nur über eine knappe Mehrheit verfügt, findet bisher keinen Ausweg. Der Haushalt für das laufende Jahr sieht fast sechs Milliarden Dollar an Schuldenrückzahlungen vor, eine Milliarde davon ist bis Ende August fällig. Die Regierung will mehr als sieben Milliarden Dollar an neuen Schulden aufnehmen. Das meiste Geld soll aus dem Westen kommen. Europa und die USA betrachten Tunesien als Schlüsselstaat, der unbedingt vor dem Untergang gerettet werden muss.

Die EU hat jüngst weitere 300 Millionen Euro freigegeben

Erst vor wenigen Tagen gab die EU-Kommission eine Tranche von 300 Millionen Euro Finanzhilfe für Tunesien frei; weitere 300 Millionen sollen folgen. Die USA kündigten im Mai die Zahlung von 500 Millionen Dollar an, Frankreich hatte im vergangenen Jahr ein Paket von 350 Millionen Euro versprochen, von denen bisher 100 Millionen ausbezahlt wurden. Von Deutschland erhielt Tunesien im vergangenen Jahr knapp 300 Millionen Euro.

Derzeit verhandelt Tunesien mit dem IWF über einen neuen Kredit von vier Milliarden Dollar. Nach Presseberichten wird das Land mit höchstens drei Milliarden rechnen können. Als Gegenleistung verlangt der IWF Reformen. Tunesien soll Subventionen kürzen, Staatsbetriebe reformieren und die Kosten des öffentlichen Dienstes senken, in dem „Geister-Beamte“ Bezüge erhalten, ohne je zu arbeiten.

Die Regierung gerät auch wegen Polizeigewalt in Bedrängnis. Anwälte werfen Polizisten in Tunis vor, einen mutmaßlichen Drogenhändler zu Tode geprügelt zu haben. Bei Protesten dagegen schlugen Beamte auf einen Jugendlichen ein. „Der soziale und wirtschaftliche Reformdruck nimmt zu“, analysierte die staatliche deutsche Wirtschaftsförderungsgesellschaft GTAI. Trotz einer erwarteten wirtschaftlichen Erholung nach der Corona-Krise werde 2021 ein schwieriges Jahr für Tunesien, nicht zuletzt weil der Tourismus noch eine Weile schwächeln dürfte.

Der Präsident liegt mit dem Parlament im Clinch

In Tunis liegen Präsident Kais Saied, das Parlament und Ministerpräsident Hichem Mechichi miteinander im Clinch. Der einflussreiche Gewerkschaftsbund UGTT und einige Parteien lehnen die IWF-Bedingungen für den neuen Kredit ab. Experten plädieren für mehr ausländischen Druck. „Die Europäische Union und Mitgliedstaaten wie Deutschland haben Tunesien seit 2011 diplomatisch und finanziell so stark unterstützt wie kein anderes arabisches Land“, schrieb Isabelle Werenfels von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik in einer Analyse. Der wichtigste Grund für die Unterstützung sei, dass sich Tunesien als einziges Land der Region demokratisiert habe. „Nach fast einem Jahrzehnt scheint diese ‚Demokratisierungsrente‘ für Tunesiens Regierung zur Selbstverständlichkeit geworden zu sein.“ Deshalb sollten Deutschland, Frankreich und andere Akteure aktiver werden, schlägt Werenfels vor: „Signale, Anreize und Maßnahmen können so gestaltet werden, dass reformorientierten Akteuren der Rücken gestärkt wird.“

Vorerst verhindert die politische Instabilität, dass durchgreifende Reformen in Angriff genommen werden, meint Francis Ghiles von der spanischen Denkfabrik Cidob. Viele ausländische Firmen ziehen sich nach seiner Beobachtung zurück: Ohne politische Lösungen in Tunis werden diese Investoren nicht zurückkehren.