Starke Tanzszenen: Corinne Steudler spielt mehrere Rollen im Einpersonenstück „Tanz der Wut“. Foto: Theater Kempten/Birgitta Waizenegger

Die französische Tänzerin Andréa Bescond hat ein Stück darüber geschrieben, was der Missbrauch mit ihr gemacht hat. Das ist hart – und doch sehenswert.

Das Theaterhaus ist mal wieder brechend voll. Das Publikum strömt zu Comedy und Gauthier Dance. Eine kleine, wackere Schar hat sich dagegen Tickets gekauft für einen Abend, bei dem man schon vorher weiß, dass man sich weder vor Lachen auf die Schenkel klopfen wird noch entspannt zurücklehnen kann. „Tanz der Wut“ nennt sich ein getanztes Schauspiel, das man so nicht alle Tage sieht, weil es ein Thema verhandelt, bei dem meist sofort auf Durchzug geschaltet wird: sexueller Missbrauch.

Muss man das im Theater sehen? Die französische Tänzerin Andréa Bescond befand: Ja, muss man. Sie wurde als Kind missbraucht – und das Trauma hat ihr Leben bestimmt. Sie fand im Tanz ein Mittel, Wut, Verzweiflung, Trauer auszuagieren. Deshalb hat sie ein Stück darüber geschrieben und spielte und tanzte ihre Geschichte auf der Bühne.

Im Publikum haben viele geweint. Weinen muss man im Theaterhaus nicht – ein einfacher Abend ist es aber auch nicht. Die Regisseurin Silvia Armbruster und die Choreografin Christ Comtesse haben das Stück fürs Theater Kempten neu erarbeitet. Diesmal ist es Corinne Steudler, die allein auf der Bühne steht und gleich mehrere Rollen spielt: die Mutter, die nicht wahrhaben will, dass ihr kleines Mädchen jahrelang von Onkel Ronald missbraucht wurde, die Therapeutin, die alte, bucklige Tanzlehrerin. Sie sieht sofort, dass das Mädchen Talent hat und aufs Tanzinternat gehen muss.

Der Tanz gibt Halt

Es ist eine Mischung aus Schauspiel und grandiosem Tanz, die Steudler hier präsentiert. Aus der kleinen Odette wird eine Musicaltänzerin, die ihre Karriere durch Alkohol- und Drogenexzesse sukzessive ruiniert. Corinne Steudler gibt in kurzen Tanzszenen Einblicke, wie Odette sich durchschlägt, wie sie erst in „Mama Mia“ tanzt, dann in billigen Shows verheizt wird, demütigende Castings durchleidet und sich schließlich mit Auftritten bei Lidl über Wasser halten muss. „Nicht mal zu Rewe hab ich es geschafft“, sagt sie. Ihr Leben ist ein Trümmerhaufen.

Ein ungewöhnlicher Theaterabend

Keine leichte Kost, und doch ist es dem Team gelungen, erstaunlich lebendiges Theater aus diesem düsteren Solo zu machen. „Triggerwarnung“, heißt es auf der Seite des Theaterhauses, denn es wird schonungslos gezeigt, wie der Onkel sein „Spatzerl“ regelmäßig zum „Kitzeln“ ins Bad lockt, aber auch, wie die Familie nicht sehen will, dass es dem Kind nicht gut geht. Bei ihr sei die Kindheit auch nicht nur schön gewesen, kommentiert die Mutter.

Diese Kälte wirkt etwas zugespitzt, gar übertrieben, wie auch die Ignoranz der Therapeutin – und ist doch sehr alltäglich, so die Meinung der kleinen Runde, die im Anschluss an die Vorstellung über das Stück diskutiert. „Es ist sehr realistisch“, sagt die Sozialpädagogin Julia Gebrande, Professorin an der Hochschule Esslingen. Auch die inneren Konflikte von Odette seien ganz typisch, das Dilemma, die Dinge herausschreien zu wollen und doch nicht über sie sprechen zu können.

Es geht um Macht

Typisch sei auch, wie die Mutter die Fassade aufrechterhalten will, meint auch Hans-Jörg Koten von der Stuttgarter Beratungsstelle Kobra und weist darauf hin, dass in zwei Drittel der Fälle die Täter aus dem direkten Umfeld kämen. Meist seien sie keineswegs pädophil, sondern es gehe um „Machtausübung“. Sie würden ihre Position ausnutzen, meint auch Julia Gebrande, „und das Kind so verwickeln, dass es ihm fast unmöglich ist, sich der Situation zu entziehen“.

„Das Tanzen hat mir geholfen“, heißt es einmal im Stück von Andréa Bescond. Sie hat eine Therapie gemacht – als sie aber ein Kind bekam, holten die Ereignisse sie plötzlich wieder ein. Sie hat sich erneut Hilfe gesucht und angefangen, das Thema auch künstlerisch zu verarbeiten sowie eine Initiative ins Leben zu rufen, die nun sogar von Brigitte Macron unterstützt wird. In jedem zweiten Brief, den sie als Ehefrau des französischen Präsidenten bekomme, gehe es um körperliche, psychische oder sexuelle Gewalt, hat Madame Macron in einem Interview erzählt, deshalb müsse der Kampf dagegen sichtbarer werden.

„Tanz der Wut“ ist ein Baustein dabei – und aus Sicht von Julia Gebrande fast noch wichtiger als Prävention. Denn die lade die Verantwortung auf den Schultern der Kinder ab, die eben Nein sagen müssten. „Die Verantwortung“, sagt Gebrande ganz deutlich, „liegt bei den Erwachsenen!“

Vorstellungen: 30. und 31. März, 20.15 Uhr