„Ihre wöchentliche Bildschirmzeit beträgt...“ – Zeitdiebe haben Hochkonjunktur in der digitalisierten Alltagswelt, Michael Endes Klassiker nichts an Aktualität verloren. Foto: Abelein

Michael Endes Kinderbuchklassiker „Momo“ für Erwachsene adaptiert hat das Theater in der Baracke im Fruchtkasten. In „Mora“ stehlen das Smartphone und Alexa den Menschen die wertvolle Zeit.

In Michael Endes Roman „Momo“ von 1973 macht sich die empathische Titelheldin auf die Suche nach der geraubten Zeit. Die unheimlichen grauen Herren haben sich dieser bemächtigt. Schauplatz ist ein Amphitheater in einer Großstadt.

Das Theater in der Baracke hat diesen Stoff kurzerhand aktualisiert und auf den Schlossberg nach Böblingen und in die heutige Zeit verlegt. Mora ist auch kein Mädchen wie Momo, sondern eine gestandene Frau (Michaela Schubert). „Es ist ja ein modernes Märchen, und wir haben es in unsere Zeit übersetzt. Die Grundidee aber bleibt“, sagt die Regisseurin Sabine Gerritsen, die die Kinderstück-Fassung für das Ensemble umgeschrieben hat. „Es muss für uns, unsere Truppe und unser Alter passen“, sagt sie.

Von der seltenen Gabe des Zuhörens

Der Hüter der Zeit Meister Hora wird von einer Frau verkörpert (Julia Herschberger), die das Publikum zu Beginn des Stücks in das Wesen der Zeit und in die Geschichte einführt: Eines Tages lässt sich die Straßenmusikerin Mora in den Schlossruinen nieder. Auf Anhieb gewinnt sie neue Freunde, so den Fremdenführer Siggi (Frank Habeck) und den Straßenkehrer Beppo (Frank Schubert), denn Mora hat die wunderbare Gabe zuzuhören. Mit reger Mimik schlichtet Michaela Schubert als Mora Streit und versammelt eine gesellige Runde um sich und ihre Gitarre.

Unbemerkt schleichen sich die Zeitdiebe ins Leben der Menschen

Doch unbemerkt schleichen sich die grauen Herren in das Leben der Menschen. Sie bedrängen ihre Opfer, Zeitsparkonten zu eröffnen und künftig auf überflüssige Kontakte und Gedankenschweifen zu verzichten. Ihre Klienten erhöhen also die Drehzahl ihres Lebens: Ein Wirt wirft Stammgäste aus seinem Gasthaus, und elektronische Zeitfresser wie Alexa, Smartphones und Fotodrohnen halten Einzug. Was die Herren mit der gesparten Zeit eigentlich machen, bleibt undurchsichtig. Das Ensemble präsentiert die Zeiträuber frostig kalt, herrisch und kettenrauchend in dunklen Anzügen mit Sonnenbrillen. Rasch wechseln die Schauplätze und mit schlichten Requisiten wie Kästen und Stellwänden in immer neuen Anordnungen gruppiert, gelingt es den Akteuren, mannigfaltige Orte in Szene zu setzen: zum Beispiel Straßenzüge, Wohnungen, Geschäfte, Restaurants und eine Müllkippe.

Mora alias Momo leistet erfolgreich Widerstand

Schließlich versuchen die grauen Herren auch Mora für ihr Lebensmodell zu gewinnen. Da sind sie jedoch an die Falsche geraten. Nicht einmal ein Roboter mit künstlicher Intelligenz (Frank Schubert agiert zur Musik von Kraftwerk) vermag sie zu überzeugen.

Monika Schleh und Julia Herschberger hat das Ensemble neu als Verstärkung gewonnen, und sie fügen sich gut in die Gruppe. Wieder mit von der Partie ist Hülya Yurttas, die bereits im Ensemble gespielt hat und mehrere Nebenrollen in ihrer Person vereint. Im Nirgendhaus von Meisterin Hora und in der Darstellung der grauen Herren verschiebt sich das Geschehen ins Fantastische. Mit Absicht: „Wir haben versucht, das Märchenhafte zu erhalten“, so Gerritsen. Die Stundenblumen der Menschen, die Meisterin Hora dort hütet, setzt das Ensemble zum Beispiel tänzerisch in Szene.

Obwohl die Zeit im Stück in unterschiedlichem Tempo voranschreitet und sogar einmal stehen bleibt, vergeht sie für den Zuschauer dank der flotten Inszenierung wie im Fluge. Und obgleich es sich nicht um eine Komödie handelt, auf die sich das Theater in der Baracke spezialisiert hat, gibt es immer wieder etwas zu lachen – über skurrile Situationen, schlagfertige Kommentare der Figuren oder die überzeichnete Darstellung der Digitalisierung, der modernen Arbeitswelt, Konsumkultur und der grauen Herren. Ob Mora es mit ihnen aufzunehmen vermag?

Bleibt zu hoffen, dass die Corona-entwöhnten Theaterbesucher Zeit für diese Aufführung finden.

Die nächsten Spieltermine sind am 18.,19. und 20. November und am 25., 26. und 27. November um 20 und sonntags um 18 Uhr.