Zwei sehr ungleiche Brüder: Phil (Benedict Cumberbatch, li.) und George (Jesse Plemons) Foto: Netflix/Kirsty Griffin

Jane Campions „The Power of the Dog“ wurde bei den Golden Globes als bester Film ausgezeichnet. Lohnen die zwei Stunden bei Netflix? Ist dies wirklich ein Western?

Stuttgart - Revolver, die aus Holstern schnalzen, Winchester-Gewehre, deren ratschende Repetierhebel Unheil verkünden, Kugeln, die durch die Lüfte pfeifen: das alles erwartet man, wenn man Western hört. Dass sich komplizierte menschliche Spannungen letztlich in einem Duell der Colts auflösen, das ist für einige Freunde wie für alle Feinde dieser Filmgattung ihre Definition. Vielleicht ist es also nicht hilfreich, Jane Campions Film „The Power of the Dog“, der gerade drei Golden Globes gewonnen hat, einen Western zu nennen.

Freiheit oder Zivilisation

Dabei spielt der Film tatsächlich im Westen, auf einer Ranch in Montana, in der Welt der Cowboys. Nur finden wir uns in einer etwas späteren Epoche als jener, in der Hollywoods Western meist spielen. Deren Figuren leben, reiten und schießen in den Jahren zwischen 1860 und 1895. „The Power of the Dog“ spielt im Jahr 1925, aber gerade deshalb kann er eines der großen Western-Themen aufgreifen: den Konflikt zwischen rauer Freiheit und regulierender Zivilisation, zwischen der gefährlichen Selbstbestimmtheit der Starken und der einengenden, aber Sicherheit für die Schwachen bietenden Herrschaft der Gesetze.

Schon bevor es Golden Globes gab – als bestes Drama, für die beste Regie (Jane Campion eben) und die beste Nebenrolle (Kodi Smit-McPhee) –, war der bei Netflix abrufbare „The Power of the Dog“ ein Kritikerliebling. Er ist tatsächlich erstklassig gemacht. Man hätte zum Beispiel auch noch Kirsten Dunst und Benedict Cumberbatch für ihre schauspielerischen Leistungen sowie dem Kameramann Ari Wegner und dem Komponisten Johnny Greenwood Golden Globes verleihen können.

Ein Western für Corona-Zeiten

Aber die Zuneigung der Kritiker hat wohl auch mit einer gar nicht erkünstelten Aktualität zu tun. Einfach so leben zu können, wie man selbst will, ohne viel Rücksicht auf andere zu nehmen, ohne auf Schritt und Tritt Vorschriften folgen zu müssen, das ist in Zeiten der Corona-Proteste ein brandaktuelles Lebensbedürfnis einer Minderheit, mit der die Mehrheit sich nun sehr schwer tut.

Jane Campion, die nach einer Romanvorlage von Thomas Savage auch das Drehbuch geschrieben hat, erzählt von zwei sehr gegensätzlichen Brüdern, die gemeinsam eine Rinderfarm führen. Phil (Cumberbatch) ist ein harter Knochen, ein stets angespannter, wütend wirkender, andere verbal barsch angehender Kerl, der es genießt, wochenlang nicht zu baden, also nach Pferd, Rind und Schweiß zu stinken. George (Jesse Plemons) ist ein etwas dicklicher, gehemmter Rindergeschäftsmann geworden, der auch auf der Farm sauber gebadet in frischen Klamotten herumläuft und jederzeit so aussieht, als könne er in der Stadt ohne Nachbürsten in ein feines Restaurant gehen.

Sehr ungleiche Brüder

Das Verzwickte an der Sache: der intelligentere, gebildetere der beiden ist der raue Westmann Phil, der mit so etwas wie siedender Sehnsucht in die Hügel stiert, als wünsche er sich eine frühere Zeit zurück. George ist notwendig anpassungsfähig durch eine gewisse Tumbheit und freundliche Unbeholfenheit. Er braucht den Fortschritt, weil die Vertreter der Cowboy-Kultur von gestern ihn als Chef nicht für voll nehmen.

Phil dagegen, der sich auch in einer Großstadt dank Köpfchen vielleicht besser behaupten könnte, will nicht, dass seine Welt ihre Rauheit, Derbheit und Isolation aufgibt. Er hat dafür auch sehr persönliche Gründe. „The Power of the Dog“ erkundet die unterdrückte homoerotische Seite dieser mit ihren prallen Lederschonern so buchstäblich auf dicke Hose machenden Männerkultur.

Ankunft einer Frau

Auch hier fahren nun die ersten Autos, Strom wird irgendwann kommen, mit ihm das Radio, in den größeren Städten im Westen gibt es ja längst Kinos. Die ganze heikle Situation auf der Ranch in Umbruchzeiten gerät außer Kontrolle, als George eine alleinerziehende Witwe (Kirsten Dunst) heiratet und diese Rose nun nebst Sohn Peter (Kodi Smit-McPhee) auf die Ranch zieht.

Phil schmort vor Wut, provoziert und demütigt Rose durch Missachtung, wo er kann. Dem dürren, blassen, fein gekleideten Peter rufen die Cowboys bald „Schwuchtel“ hinterher. Die Frage nach der Männlichkeit und den Grenzen sexueller Freiheit im angeblich freien Westen steht offen zwischen Haus und Stall da. Rose fürchtet um sich und Peter, als Phil noch ganz und gar feindselig ist. Als Phil freundlicher zu Peter wird, bangt sie noch viel mehr.

Es liegt was in der Luft

Die Neuseeländerin Jane Campion, Jahrgang 1954, hat oft von Freiheit und Repression, von Abweichlertum und Konvention erzählt, am brutalsten in „An Angel at my Table – Ein Engel an meiner Tafel“ (1990), der Geschichte des Martyriums der Dichterin Janet Frame in der Psychiatrie. Immer wieder, in „Das Piano“ (1993) und der TV-Serie „Top of the Lake“ (2013 und 2017) etwa, hat sich Campion für die Entwicklungen dort interessiert, wo ein paar Menschen abseits von anderen ein alternatives Leben nach eigenen Regeln gestalten könnten – und erleben, dass so kein mildes Paradies entsteht. Wer Campions Werk kennt, wird ihre Themen in „The Power of the Dog“ rasch entdecken.

Campions Stil aber dürfte der Grund sein, warum mancher enttäuscht sein wird, den das Etikett „Western“ angelockt hat. Nicht nur schnalzen hier keine Revolver aus den Holstern. Es passiert überhaupt sehr wenig. Und das bisschen, was die Figuren reden, ist oft herausgepresstes Drumherum: das Eigentliche bleibt unausgesprochen. Campion und ihr Team feilen an Stimmungen, es geht um Atmosphäre, um das, was in der Luft liegt, auch wenn es sich nicht entladen wird.

Ausnahmefilm oder Langweiler?

In diesem Film muss man sich den Bildern und der Musik hingeben, vielleicht sogar die meisten Dialoge eher als Teil der Filmmusik nehmen. Es geht Szene um Szene auf Bauchebene um den irrwitzigen Widerspruch von möglicher Freiheit und realer Einengung, in dieser schönen Ecke Montanas, in der man meditieren könnte, in der aber alle Hauptfiguren mit Bauchschmerzen vor Angst oder Wut aufwachen und zu Bett gehen.

Wer sich darauf einlässt, bekommt einen der Ausnahmefilme des Jahres geboten. Wer aber frohgemut etwas wie „3:10 to Yuma“, „Bone Tomahawk“ oder „True Grit“ erwartet (allesamt interessante Rückbesinnungen auf Western-Themen), wird möglicherweise fluchen, über einen der langweiligsten Filme je gestolpert zu sein.

The Power of the Dog. Regie: Jane Campion. Mit Kirsten Dunst, Benedict Cumberbatch, Jesse Plemons, Kodi Smit-McPhee. 126 Minuten. Abrufbar bei Netflix.