Kommunen dürfen Stand heute nicht überall dort, wo sie es für sinnvoll erachten, Tempo 30 einführen. Laut Koalitionsvertrag soll sich das ändern. Nur wann? Foto: dpa/Arne Dedert

Der Koalitionsvertrag der Ampel verspricht Städten und Gemeinden, dass sie selbst entscheiden dürfen, an welchen Stellen sie ein Tempolimit einführen. Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) interessiert das bisher wenig.

Ein Missverständnis möchte Gunter Czisch gleich ausräumen: Es gebe hier nichts zu diskutieren, „es ist keine politische Frage mehr“, sagt der Oberbürgermeister von Ulm. „Die Spur ist im Koalitionsvertrag gelegt: Wir fordern die Umsetzung.“ Seine Kommune war eine von sieben, die sich im Sommer 2021 zusammengetan haben, um mehr „Beinfreiheit“, wie Czisch es nennt, bei der Verkehrsplanung zu bekommen. „Wir wollen weniger Gängelung.“ Um vor allem selbst entscheiden zu können, auf welchen Strecken in der Stadt Tempo 30 sinnvoll ist. Um den Schilderwald, den keiner mehr verstehe, zu lichten, aber auch, um die Kommunen lebenswerter und zukunftsfähiger zu machen. Bisher gibt die Straßenverkehrsordnung das nicht her.

In ihrem Koalitionsvertrag hat die Ampel genau dies in Aussicht gestellt – mit dem entscheidenden Schönheitsfehler, dass sich hier bisher nichts bewegt hat und sich der Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) mehr oder weniger tot stellt. Das ist insofern bemerkenswert, als dass die Initiative „Lebenswerte Städte und Gemeinden“ inzwischen auf 411 Mitglieder (Stand 25. Januar) angewachsen ist. Das entspricht fast 27 Millionen Bürgern und damit rund einem Drittel der Bevölkerung in der Bundesrepublik. Die Forderung der Initiative sei damit „Konsens in Deutschland“, sagt Martin Horn, der Oberbürgermeister von Freiburg, neben Ulm die zweite Gründungskommune der Initiative aus Baden-Württemberg.

Wissing hat bisher nicht einmal ein Gespräch angeboten

Selbst auf mehrfache Einladung habe der Bundesverkehrsminister den Hunderten Oberbürgermeistern und Bürgermeistern bisher nicht einmal ein Gespräch angeboten. „Die Gesamtsituation ist sehr frustrierend und nicht zu verstehen“, sagt Horn. „Ich bin schon irritiert.“

Sowohl er als auch sein Ulmer Amtskollege betonen: Niemand wolle flächendeckend Tempo 30 einführen. Diese Sorge hatten sie etwa im Stuttgarter Rathaus. Der Oberbürgermeister Frank Nopper fremdelte stark mit der Initiative, sah nach eigenen Worten den Wirtschaftsstandort Stuttgart in Gefahr und wollte deshalb nicht beitreten. Nopper wurde dann aber letztlich vom Gemeinderat überstimmt, die baden-württembergische Landeshauptstadt ist nun seit Ende März 2022 auch dabei.

Allein im Januar 51 Beitritte zur Initiative

Über den Zustrom von Dörfern, Städten und inzwischen auch Landkreisen – allein im Januar waren es 51 Beitritte – zeigen sich die Gründungsmitglieder selbst überrascht. Das gesamte politische Spektrum sei vertreten. Damit wachse der Druck aufs Verkehrsministerium, sagt der Freiburger OB Horn. Gab es anfangs noch die Idee, Modellkommunen auszuweisen, sei dies angesichts der überwältigenden Zahl inzwischen vom Tisch. Und auch, wenn die Initiative – die inzwischen eine eigene Geschäftsstelle hat – ein Gespräch mit dem Verkehrsminister für das Mindeste hält, ist das nicht ihr Hauptziel. Es gehe schlicht um die Umsetzung, sagt OB Czisch aus Ulm.

„Es ist eine ganz einfache Forderung“, sagt auch Janna Aljets von Agora Verkehrswende; die Berliner Denkfabrik unterstützt die Initiative. „Die Kommunen weisen auf ein eklatantes Problem hin. Die Straßenverkehrsordnung ist einfach nicht mehr zeitgemäß.“ Wie erklärt sie sich, dass die Initiative, die ihres Wissens nach „einzigartig“ sei, ignoriert wird? „Die Politik des Verkehrsministeriums ist weiterhin sehr auf das Auto ausgerichtet“, sagt Aljets. Und tatsächlich knirscht es inzwischen ziemlich in der Ampel-Koalition, weil das Verkehrsministerium sich bisher eher durch das Bemühen hervortut, den Straßenbau schneller voranzutreiben als die gesetzlich festgelegten Klimaziele zu verfolgen.

Antwort aus dem Verkehrsministerium nach elf Minuten

Auf eine Anfrage unserer Zeitung, reagiert das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) in Berlin binnen elf Minuten per Mail, allerdings mangelt es an konkreten Antworten – unter anderem auf die Frage, warum der Verkehrsminister Volker Wissing bis dato nicht einmal mit Vertretern der Initiative gesprochen hat. Eine eigens gegründete Länderarbeitgruppe habe sich mit der Überarbeitung der Straßenverkehrsordnung befasst, so die Sprecherin. Nun gehe es um die rechtliche Prüfung.

Grundsätzlich gelte: „Das BMDV ist auch mit Blick auf Regelungen zu Tempo 30 offen für unterschiedliche Lösungsansätze“, so die Sprecherin. Nicht überzeugt sei das Ministerium indes „von flächendeckendem Tempo 30 oder Geschwindigkeitsbeschränkungen in Durchgangsstraßen“. Sie verweist darauf, dass Kommunen bereits heute Tempo 30 anordnen könnten, und zwar nicht nur bei besonderen Gefahrenlagen, sondern auch „im Bereich sensibler Einrichtungen“ oder in „Wohngebieten mit hoher Fußgänger- und Fahrradverkehrsdichte“.

Für die mehr als 400 Mitglieder der Initiative „Lebenswerte Städte und Gemeinden“ geht diese Aussage des Ministeriums komplett am Thema vorbei. Denn sie wollen sich nicht auf die genannten Stellen beschränken, sondern eben selbst entscheiden, wie sie ihre Kommunen für die Zukunft gestalten. Zumal viele, wie der Ulmer OB Gunter Czisch sagt, derzeit hohe Summen in die Stadtplanung investieren. Auf die lange Bank schieben wollen sie das Ganze nicht mehr – und sich vertrösten lassen auch nicht. Bei einem Netzwerk-Treffen am 2. Februar werden die beteiligten Kommunen besprechen, wie sie den Druck weiter erhöhen. Gespräche hinter den Kulissen mit Berliner Abgeordneten finden bereits statt.