Boris, der Enteigner: Vor einer besonders hübschen Brandwand erzählt Palmer, wie er 500 Grundstücksbesitzer aufgefordert hat, ihre brachliegenden Flächen endlich zu bebauen. Foto: StZ Magazin/Sebastian Berger – www.sebastian-berger.de

Nur durch Debatten und Shitstorms kommt man Boris Palmer, dem Tübinger Rathauschef und Grünen Krawallpolitiker, nicht nah. Auf einer E-Rollerfahrt durch seine Stadt vielleicht? Wir probieren es mal aus.

Stuttgart - Die Aufgabe, dem grünen Oberbürgermeister Boris Palmer bei einer Fahrt mit dem E-Roller durch sein Tübingen näherzukommen, um den streitbaren Politiker besser zu verstehen, ist keine leichte: Palmer ist schneller unterwegs als sein Schatten. Eine rollende Reportage mit einem Facebook-Fundi durch die Universitätsstadt, bei der es um Palmers berufliche Zukunft, Shitstorms, Migration und die Ähnlichkeit mit seinem Vater, dem „Remstag-Rebellen“ geht. Spoiler: Es war kalt. Sehr kalt.

Die erste Träne kullert bereits in der zweiten Linkskurve die Wange hinunter. Es ist keine Träne der Rührung, keine der Trauer, sondern – Tränen lügen ja bekanntlich nicht – es ist arschkalt. Keine Ahnung, wer die Idee hatte, Boris Palmer im Winter auf einer Fahrt mit dem E-Roller näherzukommen. Es ist nicht das eigene Leben, das an einem vorbeizieht, wenn man an Palmers Hinterrad klebt, sondern das bisherige Wirken des streitbaren Oberbürgermeisters in Tübingen. Das Cyber Valley, Neubaugebiete, Kindergärten, Altenheime, selbst ein Klärwerk wird bei der rollenden Stadtführung zur Powerstation, und immer Tübingen First, nicht im Trump’schen Sinne, sondern dank Palmers Wirken als Vorreiter für andere Kommunen.

Palmer ist auf Betriebstemperatur

„In diesem Bereich ist Tübingen führend: Diesen Satz werden Sie heute noch einige Male zu hören bekommen“, hatte Palmer bereits in seinem Tübinger Lieblingscafé gedroht, in dem das Interview vor der Ausfahrt stattfindet. „Hier gibt es den besten Cappuccino nördlich der Alpen“, sagt Palmer den Standardsatz deutscher Siebträger-Ultras. „Buongiorno, Giovanni. Hast du auch Kaffee für Stuttgarter?“ Palmers Auftritt im „Piccolo Sole d’Oro“ kennt keine Geschwindigkeitsbegrenzung. Betreiber Giovanni fragt besorgt: „Alles okay, Boris, oder hast du am frühen Morgen schon ein Glas Wein getrunken?“ Als der Fotograf den Wirt ins Bild rücken möchte, ruft der: „Aber nur, wenn Boris mich küsst“, gesagt, geknutscht, Palmer ist auf Betriebstemperatur, also los mit dem Interview.

Angesprochen auf den Seufzer der Erleichterung, den man in Stuttgart vernehmen konnte, als Oberbürgermeister Fritz Kuhn dort verkündete, keine zweite Amtszeit anzustreben, und die damit verbundene Chance für Palmer, eine Stadt auf links zu krempeln, lehnte dieser dankend ab. „2004 habe ich das versucht. Wenn ich dort OB geworden wäre, würde es heute kein Stuttgart 21 geben. Die Stadtgesellschaft hat sich anders entschieden. Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“ (Später, per WhatsApp, fügt Palmer allerdings hinzu, man solle in der Politik niemals nie sagen. Na, dann...)

„Da kann ich toben, wie ich will“

Vielleicht wäre er als Facebook-Fundi, der mit seinen Posts regelmäßig die Republik verschreckt, aber auch zu unberechenbar für den nächstgrößeren Karriereschritt. Steht er sich mit seinen Kommentaren, die seine sachpolitischen Erfolge überlagern, nicht selbst im Wege? „Seit zwei Jahren sehen wir, dass die Windindustrie systematisch kaputt gemacht wird. Da kann ich toben, wie ich will. Ärgere ich mich aber über einen gerade Eingereisten, der meint, seinen Sohn auf dem Spielplatz zu erziehen, indem er ihn in der Schaukel hin- und her wirbelt, bis er ein Trauma hat, dann ist das eine bundesweite Schlagzeile. Es gibt Shitstorms ohne Ende, und was wichtig ist, interessiert keine Sau“, redet Palmer sich in Rage, wobei er Shitstorm schwäbisch-palmerisch ausspricht, zweimal mit „sch“, und wir uns dem Thema nähern, das ihm den Beinamen „Sarrazin der Grünen“ eingebracht hat: Migrationspolitik.

„Welche Gesellschaft soll das abbilden?“

Als Palmer im vergangenen Jahr eine Werbung der Deutschen Bahn kritisierte, die in seiner Frage gipfelte: „Welche Gesellschaft soll das abbilden?“, wurde es besonders heftig. „Dass immer wieder von aufgeklärten Leuten behauptet wird, dass eine Werbung, bei der absichtlich fünf von sechs Menschen mit Migrationsvordergrund gezeigt werden, unsere Gesellschaft abbilden soll, obwohl 75 Prozent der Menschen in Deutschland nicht mal einen Migrationshintergrund haben, ist absurd.“ Es folgt eine Diskussion, bei der Palmer keinen Zentimeter von seiner Meinung zurückweicht. „Wenn du den Leuten absichtlich eine Welt zeigst, die es so nicht gibt, verfolgt das entweder einen Erziehungsanspruch oder es beinhaltet eine Toleranzagenda. Das ist aber nicht der Auftrag der Deutschen Bahn. Deren Aufgabe ist es, pünktliche Züge aufs Gleis zu setzen.“

Wäre es nicht besser, wenn Palmer auf Social Media verzichten würde? „Das Wegnehmen der provokanten Teile würde dazu führen, dass ich einer von 11 000 Rathauschefs in Deutschland wäre, der so gute Arbeit machen kann, wie er will – das interessiert keinen.“ Wirt Giovanni unterbricht, um auf seinem Handy die „Sardinen“-Proteste in seinem Heimatland zu zeigen. Palmer singt den Partisanenklassiker „Bella ciao“ und zeigt auf seinem Handy eine riesige „Fridays for Future“-Demo in Tübingen. Letzte Frage in der Wärme: Wer wird der erste grüne Bundeskanzler, Annalena Baerbock oder Robert Habeck? „Habeck war schon Minister und erscheint mir erfahrener. Wer diese Frage aber ehrlich beantwortet, selbst wenn sie Harald Schmidt stellt, steht bei uns im Shitstorm, also müsste ich Ihnen eigentlich eine Politphrase zur Antwort geben und sagen, die sind beide ganz hervorragend geeignet! Ob die Grünen aber den nächsten Kanzler stellen, wissen wir alle nicht, da müssen wir erst einmal den Wahlausgang abwarten.“ Gelächter im Café. „Sie sehen: Ich könnte das, wenn ich wollte.“

Wird Plamer seinem Vater immer ähnlicher?

Palmer macht Druck, „Wir wollen ja endlich rumfahren“, also raus aus dem Café, rein in die Altstadt in Richtung Rathaus, als Jan Knauer, der Biograf seines Vaters, ins Bild stolpert. Großes Hallo, seit Jahren nicht gesehen und so weiter. Was viele politische Beobachter sagen: Palmer wird mit seinem Hang zur Rechthaberei seinem Vater, dem Bürgerrechtler und „Remstal-Rebellen“ Helmut Palmer, immer ähnlicher. Stimmt das? „Wenn es um fundamentale Freiheiten geht, bin ich wie mein Vater, da bin ich nicht bereit, zurückzuweichen. Er ist für diese Überzeugung ins Gefängnis gegangen. Alles, was ich auszuhalten habe, sind ein paar schlechte Artikel und ein paar vergrätzte Parteifreunde.“

Weiter geht’s an der nächsten Ecke: drei Parkplätze mussten für einen Spielplatz weichen. „Du musst etwas bieten, was Amazon nicht kann, um die Menschen in die Innenstadt zu locken: Hier können Eltern Cappuccino trinken, während ihre Kinder auf dem Spielplatz toben und anschließend wird im Unverpackt-Laden nebenan noch das Gemüse für die Woche eingekauft“, sagt Palmer, und weiht das Trampolin ein. Gute Haltungsnoten. Palmer springt weiter, vorbei an der bezaubernden Ammer, dem Nebenfluss des Neckars, der durch Tübingen fließt. „Für die Ammer kann ich nichts, die ist hier schon vor meiner Zeit entlanggeflossen.“

Und jetzt, endlich, Rollerzeit. Der Rathaus-Angestellte, der die Roller für die Reportage aus dem Winterschlaf wecken muss, schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, als Palmer ihm die Route schildert. „Das ist nicht Ihr Ernst, bei dem Wetter.“ Palmer grinst und braust los, als Roller-Realo. Erste Station: Das Cyber Valley, in dem Firmen und Institute angesiedelt sind, die rund um das Thema Künstliche Intelligenz forschen und arbeiten. Palmer rattert Börsenwerte und Forschungsergebnisse herunter, ehe er den Hang hinunterbrettert, falsch herum in eine Einbahnstraße rein, danach geht es über den Radweg weiter. Herr Palmer, das war illegal. „Ach Quatsch. Der Roller ist eigentlich ein Fahrrad, sieht nur anders aus.“ Nächster Halt: Stadtteil Lustnau, Palmer hält in einer Sackgasse und zeigt auf unspektakulär aussehende Büsche: „Vor 25 Jahren habe ich die gepflanzt. Als Student habe ich hier gewohnt.“ Zufriedenes Lächeln, weiter geht’s.

Stuttgart braucht neue Wohnungen

An einer mehrspurigen Kreuzung, einem Relikt aus der Zeit der autogerechten Stadt, hält der Oberbürgermeister an. O-Ton Palmer: „Total am Arsch, städtebaulich, da müssen neue Wohnungen hin, wegen so was kann ich nicht nach Stuttgart“, und es wird nicht ganz klar, ob ihn der Platz in Tübingen hält, weil er so grässlich aussieht wie all die sogenannten Stuttgarter Plätze, die mit Vornamen Österreichischer heißen, oder ob die Kreuzung zu den Aufgaben gehört, die Palmer noch erledigen will.

Nächste Station: Deutschlands berühmteste Brandwand auf dem Herrlesberg, im vergangenen Jahr schon in der FAZ zu bewundern. Palmer stolz: „Über dem Artikel stand: Der Enteigner“. Der 47-Jährige erzählt, wie er die Besitzer von 500 Grundstücken angeschrieben und sie aufgefordert hat, ihre brachliegenden Areale zu bebauen. Andernfalls würde die Stadt die Gelände übernehmen. „Eigentum verpflichtet. Die Gemeinschaft hat das Recht, dass hier gebaut wird.“ 70 von 500 hätten sich zurückgemeldet und zugesagt, dass sie bauen.

Mehr Verantwortung übernehmen?

Aus dem Augenwinkel sind Eiszapfen an der Stoßstange eines Wagens zu erkennen. Ganzkörpervereist geht es mit den Rollern weiter zum Klärwerk. Kältebedingte Konzentrationsschwächen, es geht um Energiegewinnung durch Abfaulen, oder so ähnlich. Dem Autor faulen bald die Beine ab vor Kälte. Palmer friert nicht. Könnte wohl ganz Tübingen durch Handauflegen mit Strom versorgen.

Endlich, letzte Station, der Neckar. Im Zeitraffer geht es um Wasserkraft, Flüchtlingswohnen, den ersten syrischen Bademeister, den Palmer einst einstellte, um Geflüchteten deutsche Freibadregeln näherzubringen, sowie weitere Erfolge der grünsten Stadt Deutschlands, wie Palmer Tübingen nennt. Wäre es nicht naheliegend, noch mehr Verantwortung zu übernehmen, in Stuttgart, für Ministerpräsident Winfried Kretschmann, wo dem gerade das halbe Kabinett verloren geht? „Bevor ich als Minister vorgeschlagen werde, müsste ich wahrscheinlich 1000 Parteifreunde zu einer Rollerfahrt nach Tübingen einladen, um sie von mir zu überzeugen.“ Kleiner Tipp eines Halberfrorenen: Die Boris-Palmer- Gedächtnis-Rollerausfahrt ist kurzweilig. Aber bitte geeigneteres Wetter abwarten.