In Vaihingen denken Forscher über das Auto ganz neu nach. Foto: Lichtgut/Julian Rettig

In Stuttgart-Vaihingen tüfteln Mercedes und Bosch gemeinsam mit Uni-Instituten am Automobil der Zukunft. Was könnte helfen, gegen Herausforderer wie Tesla zu bestehen?

Axel Braun hat Hände, die ohne Arme auskommen und Füße ohne Beine. Er sieht knallbunte Werbebotschaften, während sein Fahrzeug durch die Häuserschluchten einer Großstadt fährt. Doch nur er kann diese Stadt sehen, niemand sonst, auch nicht seine Kollegen, die nur wenige Meter von ihm entfernt stehen. Axel Braun nimmt seine Virtual Reality-Brille ab, die seine Hände und Füße im Display als vom restlichen Körper abgeschnittene Körperteile zeigt. Er legt die Controller an seinen Händen beiseite und kehrt zurück in die Wirklichkeit einer Forschungsfabrik in Stuttgart-Vaihingen.

Für ein paar Minuten ist Axel Braun in einem Auto gesessen, das keines ist. Einem Auto, das geradewegs in Richtung Zukunft unterwegs fährt. Braun ist Teil eines Forschungsteams der Hochschule der Medien (HdM), die gemeinsam mit Mercedes unter dem Arbeitstitel „Flexcar“, erprobt, wie ein Auto künftig ohne menschlichen Fahrer auskommen könnte. „Wir simulieren dabei für die Nutzer auch Beinahe-Unfälle“, erzählt Brauns Kollege, Tobias Schneider. „Das wirkt derart realistisch, dass sich die Leute wegducken, bevor es vermeintlich knallt.“

Wie Tesla die deutschen Autobauer herausfordert

Die Forscher von der HdM tüfteln gemeinsam mit Ingenieuren, IT-Expertinnen, Designern und Maschinenbauern in der Arena 2036 – einem Bau auf dem Vaihinger Campus, in dem Wissenschaftler auf Wirtschaftsleute treffen. Mercedes-Mitarbeiter auf Startup-Hipster. Vor knapp zehn Jahren ist die Arena 2036 gegründet worden, sie bringt Fachleute zusammen, die sich sonst nie treffen würden. Im Gründungsjahr der Arena sah die Automobilwelt noch völlig anders aus: 2013 gab es noch kein Dieselgate. Und bei Daimler oder Volkswagen ahnte noch niemand, dass Tesla einmal ein Problem werden würde.

Heute fühlt sich nicht nur Stuttgart von Konkurrenten aus Amerika und China bedroht. Es ist der 22. März 2022 als Bundeskanzler Olaf Scholz wie eine kleine Randfigur wirkt, während sich Elon Musk ein Mikrofon schnappt. Musk eröffnet nach zwei Jahren Bauzeit die neue Gigafactory in Brandenburg. Er schwärmt von einem großartigen Tag, alles werde „great“: Für Deutschland, für Europa, für die ganze Welt. Darunter macht es Musk nicht, der vor einem Tesla mit dem Nummernschild „Giga 001“ posiert. Amerika ist Giga – droht der Automobilriese Deutschland zu verzwergen?

Ansgar Gerlicher ist Professor an der Hochschule der Medien, er illustriert die Vision von einem „Flexcar“ in der Arena 2036 mithilfe eines Comics. Auf zwei bunt gezeichneten Seiten zeigt dieser eine mögliche Zukunft auf Deutschlands Straßen, von der sich heute nur träumen lässt: Eine Gruppe von Architekten landet am Flughafen, wo ein autonom fahrendes Shuttle auf sie wartet, um sie zu einer Konferenz in der Innenstadt zu bringen. Die Fahrgäste besprechen auf zwei einander gegenüberliegenden Sitzreihen – ähnlich wie in einem Großraum ICE – ihr Projekt. Das geplante Gebäude wird vor ihnen auf einem Besprechungstisch per Hologramm dreidimensional dargestellt.

„Wir schauen weiter in die Zukunft als es die Autobauer tun“, sagt Gerlicher. Kürzlich begleitete er Ministerpräsident Winfried Kretschmann als Teil einer Delegation in die USA. Dort sah Gerlicher autonome Taxis, die durch San Francisco fahren und ließ sich erklären, wie fahrerlose Lieferdienste von Uber Eats den Kunden ihre Pizza nach Hause bringen. „Wir sind da hintendran“, sagt Gerlicher. „Unsere Forschung an Künstlicher Intelligenz in Baden-Württemberg ist exzellent, aber wir haben Probleme wegen der Teststrecken für autonome Fahrzeuge. Meistens sind keine Kameras im öffentlichen Raum erlaubt.“ Auch in England schüttelt man den Kopf über die deutschen Bedenken beim Datenschutz: Dort führt eine Teststrecke mitten durch London.

Bosch entwickelt einen intelligenten Boden

In der Arena 2036 stehen täglich neue Ideen auf dem Prüfstand: Aus welchem Projekt lässt sich eine Geschäftsidee für die Mobilität von Morgen entwickeln? Javier Stillig interessiert sich dabei nicht für die Glaubenskriege und Grabenkämpfe, die sich um die Restlaufzeit von Verbrennungsmotoren drehen. Stillig arbeitet bei Bosch-Rexroth als Fachreferent für die „Fabrik der Zukunft“. Seine Vision: Große Produktionsstätten sollen künftig mit einem intelligenten Boden ausgestattet werden.

Stillig blickt auf eine schachbrettförmige Fläche, deren Funktionen er mit seinem Tablet steuern kann. Während er von einem quadratischen Kästchen zum nächsten läuft, folgen ihm auf dem Boden rote Farbelemente, die seinen Weg nachzeichnen – der intelligente Boden reagiert auf das Gewicht des Bosch-Mitarbeiters. „Die einzelnen Platten des Bodens lassen sich wie Lego-Stecksysteme miteinander verbinden“, sagt Stillig und definiert auf seinem Tablet eine Zone auf dem Schachbrett, die Menschen nicht betreten dürfen. Die Idee dabei: hier könnten in der Fabrik beispielsweise Roboter arbeiten, von denen menschliche Arbeiter Abstand halten sollten, um sich nicht zu verletzen.

Javier Stillig bettet seine Arbeit in den gesellschaftlichen Wandel ein. „Ich habe mir einst den Golf 1 gekauft, der viele Jahre fast unverändert auf den Markt kam.“ Diese langen Produktzyklen sind Geschichte. „Bei heutigen Automobilen handelt es sich fast um Einzelfertigungen“, sagt Javier Stillig. Jedes Auto entspringt individuellen Kundenwünschen. „Darauf müssen wir bei der Produktion eine Antwort finden“, so Stillig. „Die Fabrik der Zukunft muss hochgradig wandlungsfähig sein. Nur Decken, Wände und Boden sind fixe Elemente, alles andere ist mobil.“

Und so zeigt der Bosch-Mann blinkende Punkte, die in den Boden eingelassen sind. Dahinter verbirgt sich ein induktives Ladesystem ohne Kabel – wenn sich Fabriken künftig in ihrem Aufbau immer schneller wandeln, um veränderten Marktanforderungen gerecht werden zu können, muss auch die Energie rasch überall zur Verfügung stehen. Für Roboter, die als Assistenten menschliche Arbeiter begleiten oder für neue Produktionseinheiten. Stillig glaubt an seinen intelligenten Boden mit dem Steckkasten-Prinzip: „Die Automobilhersteller und die Zulieferer merken schon jetzt, dass sie mit ihren bisherigen Fertigungskonzepten an Grenzen stoßen.“

Entwickeln Google und Apple eigene Autos?

Ideen aus der Arena 2036 sollen helfen, den Gründergeist bei den deutschen Autobauern wieder zu wecken. Chinesische Newcomer wie Geely und Nio fordern Mercedes und Co. genauso heraus wie eines Tages vermutlich auch Google und Apple. Peter Fröschle läuft durch die Forschungsfabrik auf dem Campus, vorbei an Roboterarmen von Kuka und an Maschinen des Laserspezialisten Trumpf.

Fröschle hat nach Stationen bei Mercedes die Arena 2036 vor zehn Jahren aufgebaut. Der 57-Jährige lächelt, wenn er an Elon Musk und dessen gigantische Pläne denkt. Und darüber, wie bedrohlich dies für hiesige Hersteller wird. „Die Deutschen müssen immer erst einmal die Auswirkungen zu spüren bekommen, bevor sie aktiv werden“, sagt er mit Blick auf den Wandel der Kernindustrie im Südwesten: „Wir müssen schauen, dass wir uns nicht unterkriegen lassen.“

Mit Betriebsräten und der IG-Metall im Gespräch

Die Veränderung in den Fabriken hat für Fröschle nicht nur etwas mit Technik zu tun. „Wir laden regelmäßig Betriebsräte und Leute von der IG-Metall zu uns ein. Natürlich gibt es dort Unsicherheit, aber wir können den Leuten am Band viel davon nehmen, wenn wir ihnen zeigen, was in der Fabrik der Zukunft auf sie zukommt.“ Auch künftig würden viele Leute mit Handfertigkeiten gebraucht. Nun geht es auch darum, wie sich Roboter als mobile Assistenten der Arbeiter nützlich machen können.

Peter Fröschle glaubt fest daran, dass das Automobil in der Wirtschaftsregion Stuttgart nicht nur eine goldene Vergangenheit hat. Sondern auch eine aussichtsreiche Zukunft. Beides soll die Arena 2036 miteinander verbinden. An ihrer Fassade dominieren silberne Lamellen. Ein wenig erinnern sie an den klassischen Kühlergrill eines Mercedes.