Die Armut in Baden-Württemberg steigt laut den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden seit Jahren stetig an. Foto: imago/U. J. Alexander

Ein Jahr nach dem Amtsantritt der neuen grün-schwarzen Landesregierung in Baden-Württemberg üben Diakonie und Caritas Kritik: Gerade bei der Armutsbekämpfung, in der Pflege oder beim Thema Sozialwohnungen gebe es große Defizite.

Caritas und Diakonie in Baden-Württemberg fordern von der Landespolitik mehr Einsatz bei der Umsetzung der sozialpolitischen Ziele aus dem Koalitionsvertrag. Es seien „noch nicht alle versprochenen Wege begonnen worden, um den erforderlichen Umbruch und Wandel so zu gestalten, dass er möglichst allen Menschen im Land dient“.

Konkret geht es dabei um die Themen Armut, Wohnen, Pflege und Migration. Gleichzeitig sehe man Bewegung und Bemühungen in vielen Arbeitsfeldern, hieß es von den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden am frühen Montagnachmittag in Stuttgart.

Mehr als 15 Prozent im Land von Armut betroffen

Die Lebenslage für von Armut betroffene Menschen in Baden-Württemberg habe sich auch im ersten Regierungsjahr von Grün-Schwarz nicht verbessert, sagte Annette Holuscha-Uhlenbrock, Vorständin des Caritasverbandes der Diözese Rottenburg-Stuttgart. 15,4 Prozent der Menschen im Südwesten sind demnach derzeit armutsgefährdet, jedes fünfte Kind im Land sei von Armut bedroht – insgesamt steigt die Armut seit Jahren langsam an. Maßnahmen wie das Paket „Stärker nach Corona“ und den Ausbau von Präventionsnetzwerken hebt sie positiv hervor, allerdings müssten

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„Hinzu kommt der Ukraine-Krieg, der ärmere Menschen durch Teuerungen ganz besonders belastet. Sie haben keinen Puffer, um das aufzufangen“, sagte die Caritasdirektorin. Das betreffe etwa die hohen Energiepreise. Das Land sei nun dringend gefordert, von Energiearmut betroffene Menschen zu entlasten. Zudem müsse die Mobilitätswende sozial gerecht gestaltet werden – etwa in dem das 365-Euro-Ticket auch für Sozialhilfe-Empfänger geöffnet werde. Existenzielle Notlagen zu lindern sei nicht Aufgabe etwa von Tafelläden – vielmehr müsse das Land die Ursachen von Armut angehen.

Verbände sehen großen Mangel an Sozialwohnungen

Kritik gab es von den Verbänden auch an der Wohnungspolitik des Landes. „Die Wohnungsfrage ist zu einer zentralen Frage sozialer Gerechtigkeit geworden“, sagte Oberkirchenrätin Annette Noller, Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werks Württemberg. Nicht erst mit der Unterbringung von Geflüchteten etwa aus der Ukraine mache sich eine Wohnungsnot bemerkbar – diese bestehe schon an sich. So könnten Menschen mit Sozialleistungsbezügen eine am Markt angebotene Sozialwohnung vielerorts nicht anmieten, weil sie oberhalb der sogenannten Angemessenheitsrichtlinien der jeweiligen Kommunen liege, so Noller.

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Das bedeutet demnach, dass nur Menschen mit Wohnberechtigungsschein eine solche Wohnung mieten können, die keine Sozialleistungen beziehen. Hintergrund ist, dass das Land die Grenzen für den Erhalt eines solchen Berechtigungsscheins nach oben gesetzt habe. Das sei zwar einerseits positiv, so Noller, führe aber andererseits zu einer Verdrängung von Menschen in noch elenderen Lebenslagen komme.

Caritas und Diakonie fordern deshalb eine Politik weg von Einfamilienhäusern und hin zu Mehrgenerationenhäusern einerseits sowie eine verpflichtende Quote für die Schaffung von Sozialwohnraum. Derzeit fallen demnach mehr Sozialwohnungen aus den Bindungsfristen und kämen zurück auf den ohnehin überteuerten Mietmarkt, als neu gebaut würden – dies sei nicht nachvollziehbar.

Defizite auch im Bereich der Pflege und bei der Integration

Auch in anderen sozialpolitischen Bereichen sehen die vier kirchlichen Wohlfahrtsverbände im Land noch Nachholbedarf – etwa in der Pflege. So müssten Gesundheits- und Pflegestrukturen zukunftssicher gestaltet werden. Dazu brauche es etwa eine Fachkräfteoffensive für Sozial- und Gesundheitsberufe, ein regelmäßiges „Fachkräftemonitoring“, was die Bedarfe berechne, eine Ausweitung von Praxiseinsatzstellen für Auszubildende oder etwa die schnellere Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen.

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Der Bereich der Migrations- und Flüchtlingspolitik erfährt zwar derzeit verstärkt Aufmerksamkeit. Es sei aber wichtig, alle Flüchtlinge im Blick zu haben, sagte Urs Keller, Vorstandsvorsitzender des Diakonischen Werks Baden. Gerade in der aktuellen Situation sei es nun zentral, Integrationskonzepte zu stärken. „Es braucht von Anfang an qualitativ gut aufgestellte Flüchtlingsberatung und -Sozialarbeit“, so Keller.