Nichts geht mehr: Reisende suchen während des jüngsten Bahnstreiks in England an der Londoner Bahnstation Kings Cross nach Verbindungen. Foto: imago//Vuk Valcic

Wieder stehen Busse und Bahnen in Großbritannien still. Angesichts einer Rekordinflation kämpfen auch viele andere Branchen für mehr Lohn. Das erinnert an ein dunkles Kapitel der englischen Geschichte.

Drei Tage lang wird nicht viel unterwegs sein auf den Gleisen Großbritanniens. Aufs Ende der Woche hin wollen britische Lokführer und Bahnarbeiter den Schienenverkehr wieder stilllegen. Am Freitag schließt sich das U-Bahn-Personal in London an. Auch Busfahrer wollen vielerorts die Arbeit niederlegen. Schon im Juni und Juli gab es mehrfach Streiktage dieser Art.

Die Streikenden werben heute geschickter um Sympathie

Dem Tory-Verkehrsminister Grant Shapps hat es wenig genützt, die betreffenden Gewerkschaften „für die Misere so vieler Passagiere verantwortlich“ machen zu wollen. In der Bevölkerung stießen die Aktionen auf Verständnis: Jüngsten Umfragen zufolge halten sogar vier von zehn konservativen Wählern die Bahnarbeiter-Streiks für „gerechtfertigt“. Ein Grund dafür ist, dass die Streikenden heute geschickter um Sympathie für ihre Sache werben.

Vor allem aber können die meisten Briten den Bähnlern ihr Aufbegehren nachempfinden. Die dramatisch steigenden Lebenshaltungskosten, bei oft spärlich bemessenen Löhnen, treffen weite Kreise der Bevölkerung. Am Mittwoch hat das Amt für Statistik erklärt, dass im zweiten Quartal 2022 britische Reallöhne im Schnitt um drei Prozent gesunken sind – weil die Inflation bereits vor ein paar Monaten deutlich angezogen hat.

Die schwersten Einbußen seit 1977

Nach Berechnungen der Stiftung „Resolution Foundation“ haben Großbritanniens Lohnempfänger tatsächlich die schwersten Einbußen seit 1977 erlitten. Noch schlimmer könnte es werden, wenn die Inflation, wie erwartet, im kommenden Winter die 15-Prozent-Marke erreicht, ohne dass es bei den Löhnen einen Ausgleich gibt. Im Augenblick liegt sie bei zehn Prozent.

Die Bereitschaft zu Arbeitskämpfen nimmt überall zu. Schon haben in den vergangenen Wochen Berufsgruppen wie Ärzte und Pfleger, Postbeamte, Feuerwehrleute und Strafverteidiger gestreikt oder Streiks vorbereitet. Telekom-Mitarbeiter sind ebenfalls in den Ausstand getreten, und Staatsbeamte und Kommunalarbeiter bereiten den Ausstand vor, weil es ihrer Überzeugung nach „anders nicht mehr geht“.

Gewerkschaften wollen Aktionen für den Herbst koordinieren

Allein im Gesundheitswesen, dem National Health Service (NHS), wollen dreizehn verschiedene Gewerkschaften Aktionen für den Herbst koordinieren. Das Royal College of Nursing (RCN) zum Beispiel, der wichtigste Verband der Krankenschwestern und Pfleger, hält es für „eine Zumutung“, dass der durchschnittliche Stundenlohn in der Branche gerade mal um 71 Pence (85 Cent) steigen soll und manchen Mitarbeitern gar keine Erhöhung zugedacht ist.

Das RNC verlangt stattdessen Lohnerhöhungen, die fünf Prozentpunkte über der Inflation liegen – und erwägt erstmals in seiner Geschichte Arbeitskampf-Maßnahmen. Spätestens für den Oktober haben auch die großen Lehrerverbände des Landes Urabstimmungen angesagt.

Ende dieses Monats und gleich wieder im September wollen die Postler an mehreren Tagen die Arbeit niederlegen. Dies, meinen Beobachter, könne „der größte Streik dieses Sommers“ werden. 97 Prozent aller Royal-Mail-Beschäftigten, die an den Urabstimmungen teilnahmen, stimmten für Streik.

Es gärt nicht nur im öffentlichen Sektor

Und nicht nur im öffentlichen Sektor, der am weitflächigsten gewerkschaftlich organisiert ist, gärt es zurzeit. So ist ist vor wenigen Tagen zum Beispiel spontan ein Streik in der Öl-Raffinerie Grangemouth in Schottland ausgebrochen. Grangemouth ist für die Benzin- und Diesel-Versorgung Großbritanniens von zentraler Bedeutung. Noch ernster in kommerzieller Hinsicht ist der Streik, der just in der ostenglischen Hafenstadt Felixstowe begonnen hat. Felixstowe ist der größte Container-Hafen des Vereinigten Königreichs. 40 Prozent aller Container, die ins Land kommen oder das Land verlassen, gehen über diesen Hafen, mit Konsumgütern und Komponenten für die industrielle Produktion. Ein Streik in Felixstowe lähmt große Teile des Zulieferungs- und Verteilersystems der Nation.

Besonders zornige Kommentare hat ausgelöst, dass Minister bewusst Tarifverhandlungen fernbleiben, gleichzeitig aber die Stimmung anheizen. Außenministerin Liz Truss zum Beispiel, die Favoritin für die Boris-Johnson-Nachfolge, hat den Gewerkschaften eine scharfe Beschneidung ihrer Rechte angedroht, sobald sie ans Ruder kommt. Eine alte Tonaufnahme, die jüngst vom „Guardian“ veröffentlicht wurde, bringt Truss derzeit in Bedrängnis: Darauf erklärt sie, die britischen Arbeiter müssten gefälligst „mehr schuften“, statt es bei der Arbeit an „Hingabe“ fehlen zu lassen.

Erinnerung an einen schweren Einschnitt

Wenn Truss wirklich die Gewerkschaftsbewegung schwächen oder gar zerstören wolle, müsse sie mit einem Aufstand aller Gewerkschaften rechnen, hat Mick Lynch, der Vorsitzende der Transportarbeiter-Gewerkschaft, verkündet – mit einem Widerstand, wie es ihn „seit dem Generalstreik von 1926“ nicht mehr gab.

Unter dem Eindruck der neuen Streikwelle und Aktionsbereitschaft ist so in den vergangenen Wochen viel von einem „Summer of Discontent“, einem Sommer der Unzufriedenheit, die Rede gewesen. Diese Wendung soll erinnern an den „Winter of Discontent“ von 1978/79, einen unvergessenen Einschnitt der britischen Politik.

Mittlerweile glauben allerdings viele Briten schon, dass die Arbeitskämpfe weit über den Sommer hinaus reichen werden – in eine sehr unruhige Zukunft hinein.

Es droht eine Rezession

Zentralbank
 Laut der Bank of England muss sich die britische Wirtschaft, durch den Brexit ohnehin geschwächt, auch auf eine Rezession einstellen. Sie könnte bis Ende 2023 dauern.

Einschnitt
 Der Begriff „Winter of Discontent“ – ursprünglich ein Shakespeare-Zitat – ist in England verbunden mit einer großen Streikwelle der Gewerkschaften im Winter 1978/79. Im Jahr zuvor war durch eine Rekordinflation von 17 Prozent erstmals seit Ende es Zweiten Weltkriegs der Lebensstandard der Bevölkerung gesunken. Mit hohen Lohnforderungen wollten die Gewerkschaften dies ausgleichen. Die Streiks führten letztlich zum Rücktritt des Labour-Premierministers James Callaghan und zum Wahlsieg von Margaret Thatcher. (red/non)