Ursula von der Leyen mahnt die EU-Staaten zu mehr Solidarität. Was die Union in Zukunft vor allem braucht, sind Reformen. Foto: dpa/Frederick Florin

Die Krise zeigt: die EU ist mächtig, wenn sie geeint auftritt. Zu oft steht sie sich aber selbst im Weg, kommentiert unser Brüssel-Korrespondent Knut Krohn.

Viele Menschen in Europa haben Angst. Die sehr konkrete Angst, dass sie in diesem Winter ihre Stromrechnungen nicht bezahlen können, dass sie wegen der drohenden Rezession ihre Arbeit verlieren, dass der Krieg in der Ukraine weiter eskaliert, dass der Klimawandel bald nicht mehr aufzuhalten ist oder dass sie weiter von Corona heimgesucht werden. Ursula von der Leyen hat versucht, in ihrer Rede zur Lage der Union auf diese Ängste einzugehen, die Menschen zu beruhigen und ihnen Zuversicht zu geben.

Eine durchaus beeindruckende Bilanz

Dabei hat die EU-Kommissionschefin zurecht auf eine beeindruckende Bilanz verwiesen. Europa hat auf den Überfall Russlands auf die Ukraine mit einer nicht für möglich gehaltenen Geschlossenheit reagiert. In kurzen Abständen wurden mächtige Sanktionspakete gegen Moskau verabschiedet. Zur selben Zeit wird die Abhängigkeit von russischen Gas- und Öllieferungen fast im Zeitraffertempo zurückgefahren und der Ausbau von Windkraft, Sonnenenergie und anderer alternativer Energien forciert. Fieberhaft wird daran gearbeitet, die sozialen Härten abzufedern. Wofür die Europäische Union vor dieser Jahrhundertkrise viele Jahre gebraucht hätte, wurde in wenigen Wochen beschlossen.

Die Menschen in der EU können mit Stolz auf diese Leistungen blicken, auch wenn die Kritik an den einzelnen Maßnahmen nie verstummt ist. Das ist eine der guten Seite an der Demokratie, dass jeder seine Meinung frei äußern kann, ohne Repression befürchten zu müssen.

Es geht nicht nur um die aktuelle Krise

Ursula von der Leyen hat allerdings auch zurecht darauf hingewiesen, dass es um weitaus mehr geht, als die aktuellen Krisen zu bewältigen. Europa steht vor Herausforderungen, die weitaus tief greifender sind und das Leben der Menschen auf Jahrzehnte hinaus beeinflussen werden. Es geht längst darum, das europäische Lebensmodell zu verteidigen.

Nicht nur der Angriffskrieg Russlands bedroht die Freiheit, den Wohlstand und die Demokratie in Europa. Auch auf den zunehmend aggressiven Versuch Chinas, den westlichen Gesellschaftsmodellen einen autokratischen Entwurf entgegenzustellen, muss reagiert werden. Zudem entwickelt sich Peking wirtschaftlich zunehmend vom Partner zum Gegner, der Abhängigkeiten kaltblütig ausnutzt. Europa wird sich darauf vorbereiten müssen, langfristig mit Konflikten und auch instabilen Verhältnissen konfrontiert zu werden. In seiner heutigen Form ist Europa diesen Herausforderungen nicht gewachsen.

Die Reformen müssen angegangen werden

Aus diesem Grund ist es allerhöchste Zeit, die seit Jahrzehnten aufgeschobene Reformen in Angriff zu nehmen. Im Zentrum der Diskussionen steht dabei immer wieder das Ende des Vetorechts. Einzelne Staaten können die gesamte EU blockieren, um ihre Partikularinteressen durchzudrücken. Um die Handlungsfähigkeit der Union in diesen Krisenzeiten und auch in Zukunft zu gewährleisten, muss das Vetorecht in seiner heutigen Form abgeschafft werden.

Das ist auch eine Forderung der viel gelobten Zukunftskonferenz, die ihre Reformvorschläge jüngst in Straßburg vorgelegt hat. Die teilnehmenden Bürger haben bei ihrer Arbeit ein feines Gespür für die Defizite der Union bewiesen. Die meisten Vorschläge zielen darauf ab, die Union beweglicher, bürgernäher und für die Menschen wieder begreifbarer zu machen. Die Rede von Ursula von der Leyen ging in dieselbe Richtung und Mut auf dem Weg in die Zukunft einfordert. Nun sind die EU-Institutionen in der Pflicht. Sie müssen beweisen, ob sie die Zeichen der Zeit tatsächlich verstanden haben.