Krisensitzung auf Bali: Die Staats- und Regierungschefs der Nato-Staaten. Foto: dpa/Bundesregierung/Steffen Hebestreit

Die Nachricht vom Einschlag einer Rakete in Polen stellt die Nato-Staaten vor ein großes Problem. Zu was ist das Bündnis jetzt verpflichtet? Und was besagen Artikel 4 und 5 des Nato-Vertrags genau?

Am Dienstag ist eine Rakete auf dem Gebiet des Nato-Mitglieds Polen eingeschlagen. Mindestens zwei Menschen starben dabei. Was folgte, sind eine Reihe von Krisensitzungen der G7-Staaten und Nato-Partner auf Bali – hier waren viele der Staats- und Regierungschefs wegen des G20-Gipfels zusammengekommen. Was passiert jetzt? Und was besagen die Artikel 4 und 5 des Nato-Vertrags genau?

Was sind die ersten Reaktionen?

Die Natostaaten reagieren abwartend. US-Präsident Joe Biden teilte mit, dass erste Erkenntnisse zur Flugbahn der aus russischer Produktion stammenden Rakete darauf hindeuteten, dass sie nicht aus Russland abgefeuert wurde. Handelt es sich möglicherweise um eine Flugabwehrrakete der Ukraine?

Wie verhält sich Polen?

Der Natostaat zwischen Deutschland und der Ukraine versetzte Teile seiner Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft. Warschau bestellte zudem den russischen Botschafter ein und alarmierte die Nato. Ein Regierungssprecher erklärte anschließend, man habe mit den Nato-Verbündeten beschlossen zu überprüfen, ob es Gründe gebe, die Verfahren nach Artikel 4 des Nato-Vertrags einzuleiten.

Am Mittwochvormittag wollten die ständigen Vertreter der Bündnisstaaten bei der Nato in Brüssel zu einer Krisensitzung zusammenkommen.

Was besagt der Artikel 4?

Artikel 4 sieht Beratungen der Nato-Staaten vor, wenn einer von ihnen die Unversehrtheit seines Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die eigene Sicherheit bedroht sieht. Konkret heißt es darin: „Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist.“ Konkrete Reaktionen muss das nicht zur Folge haben.

Der Artikel wurde Nato-Angaben zufolge seit der Gründung des Bündnisses 1949 sieben Mal in Anspruch genommen - zuletzt am 24. Februar, dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine. Beantragt wurde das damals von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, der Slowakei und der Tschechischen Republik.

Was besagt Artikel 5?

Artikel 5 regelt den Bündnisfall. Er besagt, dass die Nato-Staaten einen bewaffneten Angriff gegen einen oder mehrere Partner als Angriff gegen alle ansehen. Daraus ergibt sich die Verpflichtung, Beistand zu leisten.

Artikel 5 ist erst ein einziges Mal aktiviert worden - nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA. Dies führte dazu, dass Deutschland und andere Nato-Staaten sich am Krieg gegen die Taliban und die Terrororganisation Al-Kaida in Afghanistan beteiligten.

Warum beantragt Polen nicht den Bündnisfall nach Artikel 5?

Weil es bislang keine gesicherten Hinweise darauf gibt, dass die Rakete gezielt auf das polnische Dorf Przewodow abgefeuert wurde. Nach Angaben des polnischen Außenministeriums handelt es sich zwar um eine Rakete aus russischer Produktion. Wer sie abgefeuert hat, ist aber unklar. Polens Präsident Andrzej Duda sagte dazu: „Wir wissen, dass es praktisch den ganzen Tag über einen russischen Raketenangriff auf die Ukraine gegeben hat. Aber wir haben derzeit keine eindeutigen Beweise dafür, wer die Rakete abgefeuert hat. Die Ermittlungen laufen.“

US-Präsident Biden sagte, die Flugbahn der Rakete lasse es „unwahrscheinlich“ erscheinen, dass sie aus Russland abgefeuert wurde. Später berichtete er nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur in einer der Krisensitzungen hinter verschlossenen Türen, dass es sich bei dem Geschoss auch um eine Flugabwehrrakete aus Beständen der Ukraine handeln könnte.