Am Tag der Urteilsverkündung hat sich Hartmut M. hinter einer Zeitung verborgen. Foto: LICHTGUT/Leif Piechowski

Der Cold-Case-Prozess im Stuttgarter Landgericht um den gewaltsamen Tod einer 35-Jährigen hat sein spannendes Finale gefunden. Am Mittwoch wurde das Urteil verkündet.

Stuttgart - Für dieses Urteil hat es 25 Jahre Ermittlungszeit plus neun Monate Gerichtsverfahren gebraucht: Nach dem gewaltsamen Tod der 35-jährigen Brigitta J. im Juli 1995 in Sindelfingen hat das Stuttgarter Landgericht am Mittwoch den heute 71-jährigen Angeklagten zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Entscheidend dabei: Die 19. Strafkammer unter dem Vorsitzenden Richter Norbert Winkelmann hat auf Mord erkannt. Bei Totschlag wäre das Verfahren eingestellt worden - und Hartmut M. in dieser Sache ein freier Mann.

Das Gericht folgte damit im Kern der Argumentation der Anklage. Denn ein Mordmerkmal musste nach so langer Zeit erst einmal nachgewiesen werden - als Vorwurf stand letztlich Heimtücke im Raum. „Ein Motiv bleibt bisweilen unklar, aber das verhindert eine Verurteilung nicht“, so Richter Winkelmann. Einem sexuellen Hintergrund als Mordmotiv hatte Winkelmann bereits vorab eine Absage erteilt.

Alles ist auf Indizien gestützt

Die 30 Verhandlungstage seit September 2020 sind ein reiner Indizienprozess gewesen – einer mit fehlenden Akten, mit Zeugen mit Erinnerungslücken, widersprüchlichen Erkenntnissen. Hartmut M., einst Vorzeigemanager bei Unternehmen wie Digital Equipment oder Rosenthal-Porzellan, dann wegen der Tötung einer 51-jährigen Geschäftsfrau 2001 im oberfränkischen Thurnau und einer gescheiterten millionenschweren Shell-Erpressung 2004 verurteilt, hat keine Angaben gemacht, weder zu den Tatvorwürfen noch zu seinem Lebenslauf. Einzig in seinem letzten Wort hatte er mangelhafte Ermittlungen kritisiert, die „nicht zu meinem Nachteil gereichen dürfen“. Dagegen hatten nach Ansicht der Angehörigen solcherlei Mängel dem Täter eher zum Vorteil verholfen, 25 Jahre unentdeckt zu bleiben.

Brigitta J., eine in Stuttgart lebende Künstlerin, die nebenher in der Modebranche jobbte, war am 14. Juli 1995 auf dem Heimweg zur S-Bahn-Station Goldberg, als sie gegen 23.40 Uhr von einem Mann auf offener Straße niedergestochen wurde. 23 Stiche mit einem unbekannten Werkzeug, das am ehesten dem vierkantigen Dorn einer Einschlagrohrschelle entsprach, und einem Messer.

Auge in Auge mit dem Killer

Die Szenerie wurde von zwei US-Touristen beobachtet, Reserveoffiziere, die mit dem Täter in Blickkontakt standen, nur durch die Scheibe ihres Mietwagens getrennt. Auge in Auge mit dem Killer. Dass der Täter nach deren Beobachtung in einem gelben Lieferwagen geflüchtet sein soll, vier anderen Zeugen aber ein verdächtiger Honda-Sportwagen am Tatort auffiel, gehört zu den Rätseln, die im Prozess ungeklärt blieben.

Eine Sonderkommission und später Cold-Case-Ermittler hatten den Täter lange vergebens gesucht – auch dank erstaunlicher handwerklicher Fehler der Soko. Jedenfalls war der jetzt Angeklagte im Juli 1995 als unverdächtige Zeugenspur vorschnell abgehakt worden. Hartmut M. war als Besitzer eines Honda-Sportwagens ins Visier geraten. Doch der zuständige Beamte überprüfte dessen Angaben und Alibi nur oberflächlich – was sich auch mit zahlreichen Fehlern im Aktenvermerk offenbart. Die womöglich heißen Spuren 116 bis 118 wurden eiskalt.

Vom Schrebergarten zurück ins Gefängnis

Auch ein weiterer Anlauf zwischen 2001 und 2007 führte in eine Sackgasse. Eine womöglich zweite Person am Tatort blieb unauffindbar. Dabei hatten die Ermittler in dem Hauptzeugen, ein langjähriger Pilot bei US-Navy und Flugkapitän bei Delta Air, einen präzise beschreibenden Hinweisgeber. Auch bei den Videovernehmungen als Zeuge vor Gericht beschrieb der 68-jährige US-Pensionär aus Georgia den Ablauf der Tat und Merkmale des Killers, als sei es gestern gewesen.

Doch erst moderne DNA-Analysemethoden führten 2018 erstmals auf die Spur des heute 71-Jährigen. Allerdings dauerte es bis Februar 2020, ehe er in Hamburg verhaftet wurde. Er hatte bis 2016 die Haftstrafe wegen Totschlags und Erpressung verbüßt, hauste zuletzt in einer Schrebergartenanlage mit falschem Pass und einer verpackten Schusswaffe.

Staatsanwaltschaft und Nebenklage hatten eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes gefordert. Aus Sicht des Opferanwalts soll der Angeklagte überdies aus sexuellen sadistischen Motiven gehandelt haben. Die Verteidigung hatte dagegen Freispruch gefordert, im Zweifel für den Angeklagten, wegen einer Beweislage mit vielen Unklarheiten und Widersprüchen. Gegen das Urteil können Rechtsmittel eingelegt werden.