Einsatzfahrzeuge der Polizei im März 2023 in Reutlingen: Hier hatte der mutmaßliche Rechtsterrorist Markus L. kurz zuvor auf Beamte des Spezialeinsatzkommandos geschossen. Foto: dpa/Julian Rettig

Ein Einsatzvideo des SEK zeigt, wie der mutmaßliche Rechtsterrorist Markus L. nach einem Schusswechsel mit der Polizei gefesselt und nackt vor seinem Reutlinger Haus bewacht wird. Anwälte sind empört, die Vertreterin des Generalbundesanwaltes schweigt.

Das Video gehört für Rechtsanwalt Stefan Koslowski „zum schlimmsten, was ich gesehen habe“. Kollege Manfred Zipper „mag in dieselbe Kerbe hauen“. Eine Zuschauerin fragt sich, ob das 11 Minuten und 21 Sekunden lange Video „Zustände wie in Nordkorea mitten in Deutschland“ zeigt. Fest steht für alle drei: Das, war da auf den überdimensionalen Bildschirmen im Sitzungssaal 1 der Stammheimer Außenstelle des Oberlandesgerichtes Stuttgart zu sehen ist „verstößt gegen die Menschenwürde“.

Die von Markus L.. Das Video zeigt, wie Polizisten des Spezialeinsatzkommandos Baden-Württemberg den 47 Jahre alten Reutlinger nach seiner Festnahme durch das Treppenhaus vor das Mehrfamilienhaus in der Peter-Rosegger-Straße führen: barfuß, nackt, die Hände mit Kabelbindern auf dem Rücken gebunden. Eine gute halbe Stunde zuvor hatten sich die SEK-Männer und L. ein Feuergefecht geliefert. Einer der Polizisten war angeschossen und schwer verletzt worden.

Der Vorfall im März vergangenen Jahres war der blutige Höhepunkt von Durchsuchungen, Festnahmen und Verhaftungen rund um Heinrich XIII. Prinz Reuß. Er soll zusammen mit anderen den gewaltsamen Umsturz in Deutschland geplant, eine rechtsterroristische Vereinigung gebildet haben. Zu der habe auch Waffennarr Markus L. gehört.

Dessen tätowierter Rücken ist auf dem Video häufig zu sehen: zwei geflügelte Drachen, die gemeinsam einen Dolch hoch zum Hals recken. Einer der Polizisten hat seinen rechten Arm unter die linke Achselhöhle L.s geschoben, auf dessen Schulter liegt die Hand des Beamten. Die Unterarme von beiden liegen aufeinander. Ein sogenannter Halte- und Transportgriff. Hebt der Polizist seinen Arm ein wenig, wird der des Abgeführten ebenfalls gehoben, schießen Schmerzen in das überdehnte Schultergelenk. „Sperr Dich nicht“, herrscht der Polizist mehrfach L. an.

Er wird nach draußen vor das Haus geführt. Immer noch gefesselt, barfuß und nackt. Minutenlang steht er dort, bis zwei Ermittler des Landeskriminalamtes Papiertüten herbeigeschafft haben und sie über die Hände L.s streifen, mit Klebeband fixieren. So sollen mögliche Schmauchspuren gesichert werden. Oft sind die Gespräche der Polizisten mit einem Piepton überlegt. Für Jurist Koslowski der Beweis, das da „entwürdigt und beleidigt“ werde.

64 Verstöße gegen Waffen- und Kriegswaffenkontrollgesetz

Dass die Polizisten mit ihren Handys den Abtransport L.s gefilmt hätten, wie es Jurist Zipper behauptet, widerlegt der Vorsitzende des 5. Strafsenats sofort: Bei dem im Video zu sehenden Bildschirm handele es sich augenscheinlich um die Steuerkonsole der Videodrohne, sagt Joachim Holzhausen. Die Vertreterin des Generalbundesanwaltes schweigt. Bei der Durchsuchung von L.s Wohnung, Keller und Garage beschlagnahmten die Beamten Waffen und Waffenteile. Sie stellen 64 Verstöße gegen das Waffengesetz und das Kriegswaffenkontrollgesetz dar. L. hatte eine Erlaubnis zum Erwerb und Umgang mit Sprengstoff.

Sprengfallen in der Wohnung

Als das Video aufgenommen wurde, wussten die Ermittler nicht, ob L. in seiner Wohnung in dem Mehrfamilienhaus, in dem die Bewohner noch nicht evakuiert worden waren, Sprengfallen eingebaut hatte. Und ob es vielleicht gereicht hätte, irgendwo eine Decke wegzuziehen oder eine Schranktür zu öffnen, um eine Explosion auszulösen. Sie mussten also davon ausgehen, dass eine Hose für L. zu suchen, tödliche Folgen für viele hätte haben können.

In der Kritik steht der für die Durchsuchung verantwortliche Hauptkommissar des Bundeskriminalamtes (BKA). Er sorgte nicht dafür, dass L. an der Haustür eine Decke umgelegt wird. Dieser Beamte wird aus terminlichen Gründen erst im Januar vernommen.

Virtueller Tatort nicht erwünscht

Sicher wird er auch erklären müssen, warum sich zunächst ein Ermittler des Landeskriminalamtes (LKA) im Hausflur um L. kümmerte: die Behörde hatte mit der Razzia gar nichts zu tun. Im Gegenteil: Nach Recherchen unserer Zeitung bot das LKA dem BKA an, den Tatort für eine Dokumentation in der sogenannten Cave zu sichern. Ein bislang nur in Bayern und Baden-Württemberg verfügbares Verfahren: Eine dreidimensionale, virtuelle Darstellung, die es erlaubt, den Tatort später in den Gerichtssaal zu projizieren. Jeder kann dann zweifelsfrei nachvollziehen, was ein Zeuge gesehen haben kann, wie welche Kugel flog: Unter Anwälten und Besuches des Stuttgarter Reuß-Verfahrens macht sich das Gerücht breit, der verletzte SEK-Beamte sei von seinem Kollegen angeschossen worden. Das wäre mit der Cave-Technik zu widerlegen gewesen. Das BKA lehnte das Angebot ab.

Das Video sollte ursprünglich nicht in dem Verfahren gezeigt werden. Es habe keine Bedeutung für den Prozess, hatten die Bundesanwälte wie auch Ministeriale des Innenministeriums Baden-Württemberg argumentiert. „Ich kann die ursprüngliche Einschätzung, das Video sei nicht verfahrensrelevant, nicht teilen“, machte Holzhausen deutlich. Der Prozess wird am 9. September fortgesetzt.