Der Reporter Evan Gerhskovich ist jüngst mit einer Beschwerde gegen seine Inhaftierung gescheitert. Foto: dpa/Alexander Zemlianichenko

Zum Welttag der Pressefreiheit erzählt unsere Korrespondentin in Russland von ihrer Arbeit – und dem wachsenden Druck auf Reporter.

Russland-Berichterstattung ist oft eine Prozess-Berichterstattung. Die Journalisten sitzen in engen Gerichtsräumen auf Holzbänken, ein Mensch in Richterrobe liest so schnell und undeutlich Satz für Satz ab, als ob jemand hinter ihm her wäre. Im sogenannten Aquarium, einem Käfig aus Glas, läuft der Angeklagte seine kleinen Runden, als wäre er ein Tier im Zoo.

Evan Gershkovich hat einige solcher Prozesse erlebt. Der US-Amerikaner war vor fünf Jahren als Reporter nach Moskau gekommen. Seine Eltern hatten einst die Sowjetunion verlassen, ihre Kinder an der amerikanischen Ostküste dennoch mit russischen Büchern erzogen. Evans Russisch war zu seinen Anfangszeiten recht literarisch geprägt. Der 31-Jährige wollte lernen, er wollte Russland verstehen. Oft war er auf Achse, hat über Proteste auf Mülldeponien geschrieben, über aussterbende Sprachen im riesigen Land, und ja, auch über etliche Gerichtsprozesse von Andersdenkenden.

Der Fall Gershkovich trifft jeden Korrespondenten

Im April schlich Evan Gershkovich durch ein Moskauer Gerichts-Aquarium selbst wie ein verletztes Tier. Der russische Staat wirft dem Korrespondenten des Wall Street Journal „Spionage“ vor, eine Beschuldigung, die zu 20 Jahre Freiheitsentzug führen könnte. 20 Jahre Haft, weil der Journalist recherchiert hat, in einem Land, das Krieg führt und diesen offiziell nicht so benennen will.

Der Fall Gershkovich trifft jeden Korrespondenten, der in Moskau lebt und arbeitet, ins Mark. Die Frage „Gehen oder bleiben?“ – ohnehin seit dem 24. Februar 2022 rund um die Uhr präsent – stellt sich stärker. Auch mir, die ich seit mehr als fünf Jahren aus und über Russland schreibe, es ist mein zweiter Aufenthalt als Korrespondentin in Moskau.

Ertrage ich die Ängste und die Schuldgefühle?

Kann ich hier noch weiter arbeiten und mit meiner Familie leben? Gefährde ich unser Kind? Bringe ich meine Gesprächspartner noch weiter in Gefahr? Ertrage ich die Ängste und die Schuldgefühle, wenn ich das Kind ganz erstarrt auf einem Sitz am Flughafen sehe, weil es erlebt, wie die Eltern vom Grenzschutz festgehalten werden, weil der Geheimdienst noch „zusätzliche Fragen“ stellen will? Wie stehe ich, oft selbst mit Gefühlen wie Trauer, Wut, Hilflosigkeit kämpfend, dem Kind bei, wenn es auf einen Schlag Dutzende von Freunden verliert?

Die russischen Freunde werden von ihren Eltern in ein anderes Land gebracht, weil diese sich dort sicherer fühlen, die ausländischen Freunde werden samt ihren Diplomateneltern ausgewiesen. Es wird auch für die Erwachsenen einsamer, weil viele Freunde weg sind, und auch viele Gesprächspartner.

Viele Menschen schweigen

Die, die hier geblieben sind, sind vorsichtig geworden im Gespräch mit westlichen Korrespondenten. Immer mehr Bereiche werden unzugänglich – weil der Staat sie für Korrespondenten versperrt oder weil viele Menschen schweigen. Und doch: Die Nuancen des Lebens, die Stimmung in der Gesellschaft, die kleinsten Veränderungen, sie werden erst im Land selbst ersichtlich. Für alle westlichen Journalisten bedeutet ein Verbleib im Land eine Art „Fahren auf Sicht“.

Journalisten aus sogenannten „unfreundlichen Ländern“ – das sind nach russischer Lesart alle Staaten, die die Sanktionen des Westens gegen Russland tragen – bekommen mittlerweile lediglich für drei Monate ihre Akkreditierung vom russischen Außenministerium. Das ist die Arbeitserlaubnis und Grundlage für ein Visum. Zum Teil erteilt das Ministerium die neue „Karte“ erst einen Tag, bevor die alte ausläuft. Es ist ein Bangen, alle drei Monate aufs Neue.

Knapp 320 unabhängige russische Medien sind blockiert

In der jüngsten russischen Geschichte hatte es vor Evan Gershkovich niemals zuvor einen beim russischen Außenministerium akkreditierten ausländischen Journalisten wegen Spionage getroffen. Mit seiner Festnahme hatte auch die letzte amerikanische Korrespondentin Russland verlassen. Europäische Korrespondentenbüros reduzieren ihre Arbeit, manche verlegen ihre Standorte ins Ausland, nach Georgien, Lettland, Deutschland.

Unabhängige russische Journalisten sehen sich gezwungen, aus dem Ausland zu informieren, weil ihnen im eigenen Land ein Gerichtsprozess nach dem anderen droht. 61 russische Medien und 129 russische Journalisten hat der russische Staat zu „ausländischen Agenten“ erklärt. Das Stigma zieht nicht nur bürokratische Folgen nach sich, mit diesem Stempel findet kaum jemand noch einen Job im Land. Knapp 320 unabhängige russische Medien sind blockiert in Russland, sie lassen sich lediglich über den sogenannten VPN-Zugang lesen, der die Informationen durch einen verschlüsselten virtuellen Tunnel leitet.

Die schmutzigen Tricks des Staates

„Die schmutzigen Tricks des Staates werden nicht weniger. Und doch halte ich es für wichtig, hier zu sein, an einem Ort, wo grundlegende Sachen passieren“, sagt der russische Journalist Wassili Polonski, der weiterhin aus Moskau berichtet. Polonski hat einst für den unabhängigen TV-Sender „Doschd“ gearbeitet. Doch viele der Journalisten des Senders sind inzwischen ebenfalls zu „ausländischen Agenten“ erklärt worden. Sie leben in einem Dilemma: Heimat ohne Freiheit oder Freiheit ohne Heimat.