Gasteltern Jutta und Frieder Herrmann mit Wahab, der  aus Pakistan stammt, sowie  Siglinde Hinderer (rechts) mit den beiden Cousins Kamran und Miramza, die aus Afghanistan geflüchtet sind. Foto: Frank Eppler

Weil es nicht genügend Pflegefamilien gibt, haben Jugendhilfeträger zunehmend Probleme, junge Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan zu betreuen. Die Familien Herrmann und Hinderer haben Jugendliche bei sich aufgenommen.

Gut 6000 Kilometer Flucht haben Kamran und Miramza hinter sich. Die beiden 17-jährigen Cousins sind aus Afghanistan nach Deutschland geflohen, von Dschalalabad nach Fellbach. Sie teilen ein Schicksal: Ihre beiden Väter waren Polizisten und wurden von den Taliban erschossen, erzählt Kamran. Auch sein älterer Bruder war Polizist und ist tot. Miramzas Bruder lebt noch, hat aber sein Bein verloren. Er ist mit der Mutter und Schwester in Afghanistan geblieben.

Auch Wahab ist vor dem Terror der Taliban geflohen, allein. Weil sein neunjähriger Bruder gelähmt ist und sich die Familie um ihn kümmern muss, floh der 15-Jährige ohne Verwandtschaft – von Pakistan über die Balkanroute. Acht Monate schuftete er in einer Schuhfabrik in der Türkei, zwölf Stunden am Tag, um Geld für die weitere Flucht zu verdienen, erzählt er. Die hatte es in sich: In Griechenland wurde ihm mit einem Stock der Kopf blutig geschlagen, in Bulgarien wurden ihm die Hände verätzt: „Zur Abschreckung, dass er wieder zurückgeht“, sagt seine Gastmutter Jutta Herrmann.

Die leiblichen Kinder sind aus dem Haus, jetzt ist Zeit für Neues

Seit gut einem halben Jahr sind die drei Jungs nun in Deutschland und haben über das Jugendamt Plätze in Gastfamilien gefunden: Die beiden Cousins leben in Welzheim bei Siglinde und Rolf Hinderer. Wahab wohnt bei Jutta und Frieder Herrmann in Rudersberg. „Unsere beiden Söhne sind erwachsen und aus dem Haus“, sagt Rolf Hinderer. Weil das Bedürfnis da war, Mitmenschen zu helfen, nahmen sie zunächst einen Jungen aus Pakistan auf. Alles ging gut. Der Junge ist mittlerweile volljährig, lernt Mechatroniker und steht auf eigenen Beinen. Zeit für Neues. „Ich hatte mein Büro zu Hause ausgeräumt und dadurch massig Platz, da haben wir uns entschieden, die beiden Cousins bei uns aufzunehmen.“

Ihr eigenes Zimmer bräuchten die Jugendlichen in jedem Fall. Besonders groß müsse es aber nicht sein, nur ausreichend Privatsphäre bieten. Was die Möblierung angeht, bekommen Gastfamilien finanzielle Unterstützung, falls ein Bett, Schrank oder Schreibtisch fehlen. Auch bei der Erstausstattung an Kleidung gibt es Unterstützung. „Wahab hatte nur ein Hemd und eine lange Hose an, er besaß nicht mal eine Unterhose, als er zu uns kam“, erzählt Jutta Herrmann. Das Problem war schnell gelöst. Und das Betreuungsgeld reiche aus, um die Unkosten zu decken, die durch die neuen Familienmitglieder entstehen.

Gemeinsames Kochen hilft

Ein anderes Thema war schon eher die Sprachbarriere. Doch auch da zeigten sich alle Beteiligten unerschrocken und flexibel. „Das geht am Anfang mit Händen und Füßen, das Wesentliche versteht man immer irgendwie“, sagt Rolf Hinderer. Und wenn seine Frau mal wissen wollte, ob von den Jungs Blumenkohl goutiert wird oder nicht, „haben wir ihnen erst ein entsprechendes Foto aus dem Internet gezeigt“, sagt Siglinde Hinderer. Daumen hoch: „Salat ist gut!“, sagt Kamran. Er freut sich aber auch, wenn Rind oder Lamm auf den Tisch kommen.

Schweinefleisch steht allerdings bei keinem der drei gläubigen Moslems auf der Speisekarte, versteht sich. Mit der schwäbischen Küche hadert auch der eine oder andere. „Wahab mag keine Spätzle“, sagt Jutta Hinderer, „dafür kocht er einen super Reis mit Kartoffeln, Zwiebeln und Tomaten“. „Beim Würzen ist er uns zuliebe nachsichtig“, sagt Frieder Herrmann und lacht. „Die Afghanen lieben scharfe Küche.“ Ansonsten klappt es gut mit der Integration, da hilft neben Sprachunterricht und gemeinsamem Kochen auch der Sport: Die Cousins haben in ihrer Heimat gerungen und trainieren jetzt beim ASV Schorndorf mit. Wahab greift zu Schläger und Federball, er spielt Badminton auf hohem Niveau, trainiert ebenfalls fleißig im Verein.

Vorgespräche sind unerlässlich

Sich auf die neue Situation in der Familie einzulassen, ist nie ein Selbstläufer und bedeutet für alle Seiten auch Kompromissbereitschaft und Einfühlungsvermögen. Ob die Chemie zwischen Eltern und Jugendlichen stimmt, dafür gebe es neben einem Vorgespräch mit den Trägern auch eine Art Schnupperwochenende mit Übernachtung. „Wir hatten erst einen Jungen hier, der wollte nicht mit einer Katze im Haus leben“, erzählt Jutta Herrmann. Als der Jugendliche dann zurück in einer Unterkunft der Paulinenpflege Wahab davon erzählte, fragte der, ob er nicht an dessen Stelle einziehen dürfe. Er durfte. Und fühlt sich sichtlich wohl. Seine Gastmutter Jutta begleitet er etwa, wenn sie geflüchteten Erwachsenen deutschen Sprachunterricht erteilt. „Er hat einen großen Willen, zu lernen.“ Dass er in Pakistan sechs Jahre zur Schule ging und die lateinische Schrift beherrscht, hilft ihm schneller Deutsch zu lernen.

Dass es ab und zu im neuen Zuhause mal zu Spannungen kommt, bleibt nicht aus. Da seien die Pflegekinder nicht anders als andere Kinder, sagt Frieder Herrmann. „Es hilft einem als Gasteltern auf jeden Fall, wenn man schon eigene Kinder hatte“, sagt er. Aber das ist keine Bedingung, um ein Kind aufzunehmen. Und auch Alleinerziehende haben die Möglichkeit dazu.

„Finanziell drauflegen muss niemand“

In allen Fällen werden die Gasteltern von Mitarbeitenden der Jugendhilfeträger mit Rat und Tat unterstützt. Im Falle der beiden Gastfamilien ist das Annika Raith von den Ambulanten Hilfen beim SOS-Kinderdorf. „Es gibt für die Gasteltern und die Kinder immer einen Ansprechpartner“, sagt sie. „Die 14- bis 18-Jährigen kommen mittlerweile nicht mehr aus Gemeinschaftsunterkünften oder der Erstaufnahmestelle in die Familien, sondern aus den Wohngruppen der Träger“, sagt sie. „Dort wird geschaut, welcher Jugendliche in eine Familie passt und möchte.“ Dieser habe das Leben in Deutschland schon etwas kennengelernt, und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wohngruppe konnten den Jugendlichen und seine Geschichte kennenlernen. Da junge Menschen aus der Ukraine meist mit ihren Müttern nach Deutschland flüchteten, würden vor allem für Jugendliche aus Syrien und Afghanistan Familien gesucht.

In jedem Fall fänden ausreichend Vorgespräche statt, damit Eltern und Jugendliche möglichst gut zueinander passen. Und einen finanziellen Zuschuss gibt es monatlich auch. „Drauflegen muss niemand, der ein Gastkind aufnimmt“, sagt Annika Raith. Die Jugendlichen bleiben im Idealfall bis zur Volljährigkeit. Manchmal gehe das Pflegeverhältnis auch über die Volljährigkeit hinaus. Auch sei denkbar, dass Geflüchtete nach einiger Zeit der Stabilisierung in der Familie in eine andere jugendtypische Einrichtung der Jugendhilfe wechseln möchten.

Auch ein Dolmetscher steht bei Bedarf zur Seite. Auf Übersetzungsprogramme im Internet sei jedenfalls nicht immer Verlass, erzählt Jutta Herrmann. Als sie in einem Sprachkurs mit Geflüchteten eingegeben habe: „Die Katze hat Hunger, sie will essen“, habe die Software übersetzt: „Die Katze schmeckt gut, wir wollen sie essen.“ – dann doch lieber Spätzle!

Gasteltern werden

Verbund
Das Angebot für Gastfamilien im Rems-Murr-Kreis wird im Trägerverbund Gastfamilien von den freien Trägern Evangelische Gesellschaft Stuttgart, SOS-Kinderdorf Württemberg sowie der Paulinenpflege Winnenden in Kooperation und im Auftrag des Kreisjugendamts Rems-Murr umgesetzt.

Kontakt
Wer Interesse hat, Gastfamilie zu werden, kann sich unverbindlich an Hildegard Tries wenden, die Mailadresse lautet: hildegard.tries@sos-kinderdorf.de